«Die Angst vertreiben!» Gespräch mit Ellen Cart-Richter

Ellen Cart-Richter lebt seit 2017 mit HIV. Die 55-jährige Mutter von drei erwachsenen Kindern ist leitende Pflegefachfrau in einer grossen Einrichtung. Sie engagiert sich als Mentorin für Menschen mit HIV am Universitätsspital Lausanne.

Interview: David Jackson-Perry Das ist die gekürzte Version des französischen Positive Life Podcasts. Hören Sie das Interview in voller Länge auf positive-life.ch
 

Ich stelle dich mit vollem Namen vor: Ellen Cart-Richter. Ich weiss, dass es für dich wichtig ist, offen mit HIV zu leben. Das war aber nicht immer so. Vor sechs Jahren hast du erlebt, was du den «Tsunami der Diagnose» nennst. Was meinst du damit?
Zuerst hatte ich Angst. Von 1986 bis 1990 habe ich als Krankenpflegerin im St. Bartholomew’s Hospital in London auf einer der ersten Stationen gearbeitet, auf der Menschen mit Aids behandelt wurden. Nach meiner Diagnose kamen mir als Erstes die drei Menschen in den Sinn, die in meinen Armen an den Folgen von Aids verstorben sind. Das war meine erste Reaktion auf die HIV-Diagnose: Ich werde sterben.

Wusstest du als Pflege­fachfrau nicht über die neuen Medikamente Bescheid?
Ich wusste, dass sich die Wirksamkeit der Behandlung stark verbesserte. Aber ich komme nicht aus der Infektiologie. Also war ich nicht auf dem Laufenden, wie massiv sich die Situation verbessert hatte. Neben der Angst hatte ich eine riesige Wut auf die Person, die mich angesteckt hatte, weil ich dummerweise dachte, dass diese Person schuld war. Am Anfang wollte ich unbedingt herausfinden, wer es war, und das hat mich kaputt gemacht.

Diese Angst, diese Wut…?
Genau! Das brachte nichts. Die Wut verschwand, als mir klar wurde, dass auch ich, ohne es zu wissen, andere Menschen hätte anstecken können. Ich habe die Diagnose 2017 erhalten. Bis zu diesem Zeitpunkt ist viel passiert. Meine Ehe ist zu Ende gegangen und ich hatte bereits eine neue Beziehung. Ich wusste von meiner Diagnose nichts, also hätte ich auch andere Leute anstecken können, ohne es zu wissen. Als ich das endlich realisiert habe, ist meine Wut komplett verschwunden.

Als ich das endlich realisiert habe, ist meine Wut komplett verschwunden.

Und wodurch wurde diese Wut abgelöst?
Diese Wut hat sich leider in Scham verwandelt. Ich komme aus einem sehr religiösen, evangelischen Umfeld, wo schon die Tatsache, geschieden zu sein, eine grosse Schande ist. Nicht nur die Familie, auch alle meine Freund:innen waren eng mit der Kirche verbunden. Die Angst vor einer möglichen Verurteilung durch mein Umfeld hat dazu geführt, dass ich angefangen habe, meine Diagnose zu verstecken. Also konnte ich mich meinem engsten Umfeld, den Menschen, die normalerweise meine Unterstützung sein sollten, nicht anvertrauen – weil ich Angst vor Ablehnung hatte.

Heute bist du an einem ganz anderen Punkt. Was ist geschehen?
Diese Veränderung kam mit Wissen: Ich habe verstanden, dass ich nicht sterben werde und dass ich eine normale Lebenserwartung habe. Ich nehme täglich eine Tablette am Abend und denke nicht mehr an meine Diagnose. Die Krankheit an sich war fortan also kein grosses Problem mehr… aber das Geheimnis darum.

Es gibt zwei HIVs: Das «medizinische HIV», das dich nicht mehr beunruhigt. Mit dem «sozialen HIV» verhält es sich um Einiges schwieriger. Etwas, das dich zu dieser Zeit beschäftigte, war das Wem-sagen und Wie-sagen.
Tatsächlich wollte ich meinen Kindern anfangs überhaupt nichts sagen, weil ich sie nicht belasten wollte. Aber die Tatsache, dass ich selbst keine Angst mehr hatte, machte es mir einfacher. Ich habe es zuerst meiner ältesten Tochter erzählt, als wir ein Wochenende lang unterwegs waren. Wir sind zehn Stunden zusammen Auto gefahren, und hatten genug Zeit, zu zweit darüber zu sprechen. Und kurze Zeit später habe ich es auch meinen zwei anderen Töchtern erzählt.

Du musstest dich also zuerst von deiner eigenen Wut, deiner Angst und deiner Scham lösen. War das gewissermassen eine Pflichtübung, um später mit deinen Töchtern in darüber sprechen zu können?
Auf jeden Fall!

Und was waren die Fragen deiner Tochter während der zehnstündigen Autofahrt?
Wie es mir ging und warum ich mich nicht getraut hatte, es ihr früher zu sagen. Ich war erstaunt, dass sie nicht mehr Fragen hatte.

Was hat sich für dich verändert, seit du dich deiner Familie anvertraut hast?
Ungefähr zur gleichen Zeit habe ich angefangen, an verschiedenen Forschungsprojekten des Universitätsspitals rund um das Thema HIV und Stigma mitzuwirken. Und das Ergebnis dieser Forschung war, dass das «soziale HIV» heute viel schädlicher ist als das «medizinische HIV». Das hat mich ermutigt, mich weiter zu engagieren.

Es kommt mir vor, als hättest du eine Art Wiedergeburt erlebt!
Genau! Ich lebe wieder, seit ich offen über mein HIV spreche.

Diese Veränderung kam mit Wissen: Ich habe verstanden, dass ich nicht sterben werde und dass ich eine normale Lebenserwartung habe.

Als ich meinen Ehemann kennenlernte, hatte ich schon lange eine Diagnose. Es war von Beginn weg Teil unserer Beziehung. Bei dir war das anders.
Als ich die Diagnose erhielt, war mein Partner sehr verängstigt. Zu seiner Reaktion gehörten auch Schuldgefühle, doch sein Test war negativ. Auch er dachte anfangs, es sei besser, niemandem etwas zu sagen. Er befürchtete, dass die Leute mich verurteilen, besonders an meinem Arbeitsplatz. Aber schon nach kurzer Zeit versicherte er mir seine Unterstützung – unabhängig davon, ob ich den Leuten von meiner Diagnose erzählen möchte oder nicht.

© Diego Sanchez

Der Arbeitsplatz ist einer der Orte, wo kaum über HIV gesprochen wird. Du selbst gehst an deiner Arbeitsstelle sehr offen mit deiner Diagnose um.
Ich habe an einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag erstmals öffentlich über mein Leben mit HIV gesprochen. Vorher ging ich zu meinem Chef – weil ich wollte, dass er es zuerst von mir erfährt. Die Ermutigung, die er mir gab, war einfach unglaublich.

Du wurdest also nicht nur auf persönlicher Ebene unterstützt, sondern auch auf institutioneller Ebene. Nun bist du Teil des Mentoring-Projekts des Universitätsspitals Lausanne.
Genau, weil dieses Stigma, das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben und ein Geheimnis zu haben, etwas ist, das wir HIV-Betroffene alle erleben. Und ich dachte mir, dass ich andere dabei begleiten möchte. Ich habe dabei alle möglichen Leute kennen­gelernt. Die grösste Überraschung für mich: Menschen, die seit dreissig Jahren mit HIV leben und noch nie mit jemandem darüber gesprochen haben! Sie leiden ständig unter der Last, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Diese Menschen motivieren mich noch mehr, mich zu engagieren.

 

Am 8. März dieses Jahres, anlässlich des Internationalen Tages der Frauenrechte, hast du dich öffentlich geoutet. Zudem hast du dem Schweizer Fernsehen am selben Tag ein Interview gegeben. Deine ganze Familie und deine Freund:innen waren dabei. Wie war dieser Moment für dich?
Es gab viele Emotionen. Aber es war auch befreiend, in einem sehr wohlwollenden Umfeld zu sprechen. Die Leute waren da, um zu verstehen, sie wollten dazulernen. Ich fand es sehr eindrücklich. Und ich finde es wichtig, Teil dieser Bewegung zu sein und in die Öffentlichkeit zu treten. Wir machen das Leben mit HIV anders sichtbar. So dass sich nicht nur Ärzt:innen damit beschäftigen.

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