Einblicke in die Geschichte der Aids-Hilfe Schweiz

Die Aids-Hilfe Schweiz wurde am 2. Juni 1985 unter dramatischen Umständen gegründet – begleitet von grosser medialer Aufmerksamkeit. Seit fast 40 Jahren engagiert sich die Aids-Hilfe Schweiz für die sexuelle Gesundheit aller Menschen und die Rechte besonders betroffener Gruppen.

Zu Beginn der 1980er-Jahre tauchte in der westlichen Welt eine neue unheimliche Krankheit auf. Bald war klar, dass es sich um eine sexuell übertragbare Krankheit handelte, für die zu Beginn weder Tests, Schutzmittel noch Behandlung verfügbar waren.

Medizinisches Rätsel

Am 5. Juni 1981 veröffentlichte das US-amerikanische Gesundheitsamt CDC in seinem wöchentlichen Bulletin eine ungewöhnliche Beobachtung: In den letzten neun Monaten war bei fünf jungen, schwulen Männern in Los Angeles eine seltene Form der Lungenentzündung aufgetreten, normalerweise ein Symptom schwerer Immunschwäche. Beim Auftreten des Syndroms stand die Medizin vor einem Rätsel: Wie kommen junge, gesunde Männer zu einem so geschwächten Immunsystem?

1983 isolieren der französische Virologe Luc Montagnier und die französische Virologin Françoise Barré-Sinoussi am Pariser Institut «Pasteur» das unbekannte Virus. Dafür erhalten sie 2008 den Nobelpreis für Medizin. Für das Virus etablierte sich der Name HIV: Humanes Immunschwäche-Virus. Aber bis eine wirksame Medikamenten-Kombination gegen das Virus gefunden wurde, sollten noch einmal 15 Jahre vergehen.

Schweigen tötet

Immer mehr Menschen, besonders junge Leute, starben innert kürzester Zeit an Aids. Zahlreiche Männer und Frauen, darunter viele Homosexuelle – man nannte Aids auch «Schwulenseuche» oder «Schwulenpest» – aber auch Drogenkonsumierende, starben. Die Medien veröffentlichten schockierende Bilder und Gesundheitsämter, Mediziner:innen, Politiker:innen und Präventionsfachleute übten sich im «richtigen» Umgang mit der Epidemie.

«Silence = Death»: So hiess eine frühe Parole gegen das Virus – und die Untätigkeit der Politik. Um die Gleichgültigkeit der schweigenden Mehrheit gegenüber den vom Virus als erste getroffenen Minderheiten zu brechen, setzten Aktivist:innen auf starke Bilder und spektakuläre Aktionen. Ihr Einsatz machte Mut und erzeugte Druck auf Medizin, Politik und Gesellschaft, ohne den der Kampf gegen HIV nicht so rasch Fahrt aufgenommen hätte. Rund um die Welt brachte der Kampf gegen HIV unterschiedlichste Menschen zusammen. Ihre Solidarität sorgte dafür, dass die an Aids Erkrankten oder Verstorbenen nicht vergessen wurden und das Bewusstsein für das Virus und die Empathie für die Betroffenen wuchs.

Gründung von Unterstützungsstrukturen

Wie motiviert und befähigt man alle Mitglieder einer Gesellschaft, sich vor dem HI-Virus zu schützen und bereits Erkrankte nicht auszugrenzen? Keine einfache Aufgabe, doch die Schweiz löste sie bravourös, mit Mut und Engagement.
Die Aids-Hilfe Schweiz wurde am 2. Juni 1985 gegründet von schwulen Organisationen und mit Unterstützung des Bundesamtes für Gesundheit. Der erste Präsident war der berühmte TV-Journalist André Ratti.

Einen Tag nach der Gründung erklärt André Ratti öffentlich im Schweizer Fernsehen: «Ich bin homosexuell und ich habe Aids.» Als Präsident der Aids-Hilfe Schweiz will er mit diesem Bekenntnis die Prävention dieser Krankheit verstärken und sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen. Ratti stirbt im Oktober 1986. Mit seinem mutigen, doppelten Outing legte er, gemeinsam mit zahlreichen anderen, den Grundstein für die Aids-Hilfe Schweiz.

Informieren statt verurteilen

Als die Aids-Hilfe Schweiz nach ihrer Gründung im Jahr 1985 ihre erste Präventionskampagne lancierte, stand das grosse Risiko einer HIV-Ansteckung im Fokus. Die Gefahr vor der tödlichen Krankheit Aids. Und das zurecht, so gab es alleine im Jahr 1987 über 3'000 Neuansteckungen mit dem tödlichen Virus und hunderte Menschen starben. Es war der Höhepunkt der HIV-Pandemie in der Schweiz.
Den Gebrauch eines Kondoms demonstrieren, in der «Tagesschau» des SRF zur besten Sendezeit? Charles Clerc hatte 1987 den Mut dazu und die Schweiz war danach eine andere. Plötzlich wurde in jedem Haushalt diskutiert, worüber sonst vornehm geschwiegen wurde: über Sexualität und Schutzmöglichkeiten. Von dieser Aufrüttelung profitiert die Schweiz bis heute.

«Dieses kleine Ding entscheidet über Leben oder Tod.» 

Charles Clerc zieht sich 1987 während der «Tagesschau» vor laufender Kamera ein Kondom über den Mittelfinger und erregt damit internationale Aufmerksamkeit. Dieser Moment ging in die Geschichte der Schweizer HIV/Aids-Prävention ein.

Aids wird zur Pandemie

HIV-Tests waren ab Mitte der 1980er Jahre verfügbar und es war auch schnell klar, dass Kondome das Übertragungsrisiko reduzieren. Doch das Virus breitet sich weltweit immer schneller und immer weiter aus. Übertragungen beim Anal- und Vaginalsex waren häufig, aber auch beim Teilen von Spritzen beim Drogenkonsum. Einige infizieren sich zunächst auch über Bluttransfusionen, bevor es zur Vorschrift wurde, Blutprodukte konsequent auf HIV zu testen.

Viele berühmte Persönlichkeiten sterben an Aids, darunter Musiker:innen, Fotograf:innen und Schauspielende. 1985 erkrankt der homosexuelle Hollywoodstar Rock Hudson als erster Prominenter an Aids. Das verändert bei vielen die Wahrnehmung dieser Krankheit. 1988 wird der 1. Dezember zum Welt-Aids-Tag, um an Verstorbene zu erinnern und die Solidarität und Rechte von Menschen mit HIV zu stärken.

Die 1990er Jahre waren geprägt von Verzweiflung und Verlust, aber auch immer wieder hoffnungsvollen Momenten. Die Rote Schleife wird 1991 weltweit zum Symbol der Solidarität mit den Betroffenen.

Die Schweiz übernahm eine Vorreiterrolle bei der Eindämmung der Übertragung von HIV beim Drogenkonsum. Dank der Schweizer Drogenpolitik und der Abgabe von sauberen Spritzen konnten die HIV-Neuinfektionen rasch eingedämmt werden.

Aids wird weltweit zum Schreckgespenst des ausklingenden 20. Jahrhunderts und bestimmt den Alltag und das Sexleben. Die vereinten Nationen gründen UNAIDS. Die Aids-Hilfe Schweiz wird zur zentralen Anlauf- und Informationsstelle mit regionalen Aids-Hilfen in der ganzen Schweiz. Mit kreativen Kampagnen, pragmatischer und lebensnaher Wissensvermittlung und unzähligen Projekten, Massnahmen und Ideen setzt sie sich dafür ein, dass das Sexleben der Menschen eben nicht von der Krankheit bestimmt wird, sondern das sexuelle Wohlbefinden gestärkt wird - mit und trotz HIV.

STOP AIDS- und LOVE LIFE-Kampagnen seit 1987

Endlich eine wirksame Therapie – und eine mutige Schweiz

Die lang ersehnte Therapie wurde 1996 an der 11. Internationalen AIDS-Konferenz in Vancouver vorgestellt. Die so genannten Protease-Hemmer ermöglichen, gemeinsam mit bereits vorhandenen Substanzen, eine wirkungsvolle Behandlung. Die Arzneistoffe können HIV zwar nicht aus dem Körper entfernen, blockieren aber die Virusvermehrung und verhindern damit Aids.

Nach diesem Prinzip wird HIV bis heute behandelt: Heute stehen zahlreiche Wirkstoffe zur Verfügung, die verschieden kombiniert werden können. Für Menschen mit HIV in westlichen Ländern, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, bedeutet die antiretrovirale Therapie (ART) eine rasant steigende Lebensqualität und Lebenserwartung. Doch für Menschen in anderen Regionen der Welt ist der Zugang noch immer keine Realität.

Im Laufe der Jahre und mit zunehmender Verbreitung der ART mehrten sich die Hinweise, dass die Therapie einen entscheidenden Effekt hat: Die Viruslast wird so stark vermindert, dass HIV faktisch nicht mehr nachweisbar und damit auch nicht mehr übertragbar ist. 2008 hat die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) als erste Behörde weltweit diese Erkenntnis anerkannt und damit Menschen mit HIV von der ständigen Angst befreit, sie könnten das Virus weitergeben. Dieses so genannte «Swiss Statement» hat hohe Wellen geschlagen und wurde längst nicht überall – allzu oft aus moralischen Gründen – begrüsst. 

Heute ist diese wissenschaftliche Erkenntnis ein Grundprinzip der WHO: Menschen mit HIV unter erfolgreicher Therapie geben das Virus nicht weiter, auch nicht beim Sex ohne Kondom. Dies ist auch für die Prävention entscheidend. Je schneller nach einer positiven Diagnose mit der Therapie begonnen wird, desto schneller ist eine Weitergabe von HIV nicht mehr möglich. Das Prinzip TasP wurde geboren: Therapie as Prevention.

Neue Aufgaben für die Aids-Hilfe Schweiz

Seit der lebensrettenden Therapie und dem Swiss Statement hat sich die Situation für Menschen mit HIV – medizinisch gesehen – massiv verbessert, auch wenn eine Heilung bis heute nicht möglich ist.

HIV hat in der Schweiz an Dramatik verloren, immer weniger Menschen sterben an Aids. Heute führen viele Menschen mit HIV ein beschwerdefreies Leben. Doch das Leben mit dem Virus ist weiterhin nicht einfach. Etliche Betroffene wagen es nicht, über ihre Infektion zu sprechen, erleben in ihrem Alltag Ausgrenzung und fühlen sich alleingelassen. Als Patient:innen-Organisation unterstützt die Aids-Hilfe Schweiz – bis heute – Menschen, die mit HIV leben, unter anderem rechtlich bei Diskriminierungen.

Zu Beginn der 2010er Jahre hat sich der Fokus der Aids-Hilfe Schweiz verändert. Weiterhin standen Menschen mit HIV im Zentrum, denn ihr Beitrag zur HIV-Prävention durch die Therapie ist bis heute massgeblich für das Verhindern neuer Infektionen. So erreichte die Aids-Hilfe Schweiz 2012 im Rahmen der Totalrevision des Epidemiengesetzes, dass Art. 231 des Strafgesetzbuches («Verbreiten einer menschlichen Krankheit») nicht mehr automatisch in allen Fällen auf Menschen angewendet wird, die mit HIV leben.

Doch gerade bei schwulen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben, stiegen die HIV-Neuinfektionen seit 2000. Alte Präventionsrezepte waren nicht mehr wirksam. Die Aids-Hilfe Schweiz veränderte sich: Betroffene Personen rückten ins Zentrum, die Partizipation von Fachpersonen und Aktivist:innen wurde gestärkt und die aufsuchende Präventionsarbeit ausgebaut. Die Aids-Hilfe Schweiz begann, neben der STOP AIDS LOVE LIFE-Kampagne, innerhalb von Schlüsselgruppen eigene, zielgerichtete Kampagnen durchzuführen, z. B. 2012 die Kampagne «Mission Impossible» 2008 zur Primoinfektion oder «Break the Chains» 2012. Angebote, wie die 1999 initiierte Informations- und Beratungsplattform Dr. Gay, wurden gestärkt.

Auch die Gründung der Checkpoints fallen in diese Zeit (2005 in Genf und 2008 in Zürich). Immer mit der Einsicht, die bereits die Gründung der Aids-Hilfe Schweiz zwanzig Jahre vorher prägte: Die erfolgreichste Prävention wird durch Betroffenen selbst kreiert und umgesetzt. Bis heute sind die Checkpoints europaweit ein Vorzeigemodell, eine Schweizer Erfolgsgeschichte. Gleichzeitig führte ihre Gründung zu einer ersten Welle der Medikalisierung und Verärztlichung der Prävention, mit allen Vor- und Nachteilen. Durch zusätzlich Schutzmassnahmen wie die HIV-PrEP wird diese Tendenz verstärkt. Nicht nur zum Vorteil betroffener Menschen.

Mit der Strategie 2008 erweiterte sich der Aufgabenbereich der Aids-Hilfe Schweiz – und häufige sexuell übertragbare Infektionen kamen dazu. Die Infektionszahlen von Syphilis oder Gonorrhö stiegen in den 2010er Jahren massiv an, insbesondere bei Männern, die mit Männern Sex haben.

Durch die Arbeit in und mit Schlüsselgruppen war es naheliegend, dass sich die Aids-Hilfe Schweiz insgesamt der sexuellen Gesundheit besonders betroffener oder vulnerabler Personen widmet, dazu gehören auch Sexarbeiter:innen, Menschen mit Migrationserfahrung oder, seit 2023, auch trans Personen. Diese Populationen stehen alle vor besonderen gesundheitlichen Herausforderungen, und ein chancengerechter Zugang zu Prävention und Behandlung ist bis heute ein Leitziel der Aids-Hilfe Schweiz.

Die Schweiz ist heute eine andere – die Aids-Hilfe Schweiz auch

Menschen haben Sex. Und oft ist Sex etwas Schönes, etwas Aufregendes. Nicht selten sind Menschen nervös und manchmal haben sie Respekt. Respekt davor, etwas falsch zu machen oder Respekt davor, sich nicht richtig oder nicht ausreichend vor sexuell übertragbaren Infektionen zu schützen. Man ist konfrontiert mit den Risiken, die Sex mit sich bringen kann. Man hört von HIV und Aids, vom Risiko einer Ansteckung.

In den Jahrzehnten der HIV-Prävention hat sich gezeigt: Weder mit Angst noch mit einem erhobenen Zeigefinger kann man etwas erreichen. Viel wichtiger ist die Kommunikation auf Augenhöhe mit den betroffenen Gruppen.

Das Wissen um die Risiken ist wichtig, soll aber nicht die Freude an Sex nehmen. Die Präventionsarbeit der Aids-Hilfe Schweiz hat seit ihrer Gründung zum Ziel, Menschen das Wissen zu vermitteln, das sie brauchen, um selbstbestimmt entscheiden zu können. Und dabei auch Tabus zu brechen. So ist es erklärtes Ziel, dass alle Menschen ein Recht auf ein befriedigendes Sexualleben haben.

Die Arbeit der Aids-Hilfe Schweiz ist komplexer geworden. Der berühmte Leitsatz «Im Minimum ein Gummi drum» gilt zwar noch immer, ist aber kein Allerweltsmittel. Für Personen, die ein hohes Expositionsrisiko haben, gibt es beispielsweise die HIV-PrEP – ein Medikament, das präventiv eingenommen werden kann.

In der Prävention weiterhin gefragt sind innovative, kreative und mutige Ideen, welche neuste wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmen und so aufbereiten, dass sie auch verstanden und gehört werden – und im Alltag einsetzbar sind.

Präventionsarbeit bleibt eine Herausforderung, denn die Angst vor HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen ist tief verankert in den Köpfen der Menschen. Unabhängig aller medizinischer Fortschritte.

Vieles hat sich verändert, doch einiges ist geblieben: Noch immer bietet das Kondom den besten und billigsten Schutz vor einer HIV-Übertragung. Und Menschen mit HIV sind auch heute auf die Solidarität ihrer Mitmenschen angewiesen. Solidarität mit betroffenen und Chancengerechtigkeit für vulnerablen Menschen bleiben die DNA der Aids-Hilfe Schweiz.

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