Sandrine Chapatte lebt seit 1986 mit HIV. Als sie ihre HIV-Diagnose erhält, gibt es noch keine Behandlungsmöglichkeiten. Zu diesem Zeitpunkt weiss Sandrine Chapatte nicht, wie lange sie noch zu leben hat. Als Frau, die mit HIV lebt, ist das Leben der 56-jährigen Jurassierin von zahlreichen Diskriminierungen geprägt. Doch sie lässt sich nicht entmutigen. Im Gegenteil: Seit über zehn Jahren berät sie Menschen, die mit HIV leben.

Marlon: Sandrine, ich habe dich bei einer HIV-Konferenz in Bern im letzten Oktober als kämpferisch und aktivistisch erlebt. War das schon immer so?

Sandrine: Nein, überhaupt nicht. Als ich jünger war, war ich schüchtern, und da ich in meiner Familie das «hässliche Entlein» war, hatte ich kein Selbstvertrauen.

Wann und warum hat sich das geändert?

Nach 24 Jahren Ehe. Ich habe mein Leben bilanziert und bin zum Entschluss gekommen, dass ich so nicht mehr weitermachen kann. Ich hatte eine zehnjährige Tochter, für die ich bereit war, Berge zu versetzen, und ich musste ihr trotz der Krankheit gerecht werden. Aber ich hatte auch einen Ehemann, für den ich nicht als Person, sondern nur als Hausfrau existierte und von dem ich mich nicht respektiert fühlte. Eines Tages kamen mir die Tränen, und ich hörte nicht mehr auf zu weinen. Es musste sich etwas ändern. Ich fing eine Psychotherapie an und lernte, mich so zu lieben, wie ich bin, und für meine Bedürfnissen einzustehen. Ich trennte mich von einem Mann. Heute habe ich seit über zehn Jahren ein erfülltes Liebesleben mit einem Menschen, der mich glücklich und zufrieden macht, der mich in meinem Vorhaben unterstützt und der mich so respektiert, wie ich bin.

Du bist jetzt 56 Jahre alt und lebst seit 1986 mit HIV. Du hast kurz nach deiner Diagnose geheiratet.

Genau. Ich habe sehr jung geheiratet, weil ich mich in den Mann, der später mein Ehemann werden sollte, verliebt hatte und diese Gefühle auch erwidert wurden. Wer zu diesem Zeitpunkt mit HIV lebte und überzeugt war, sterben zu müssen, zögerte keine Minute, sich an seine:n Liebste:n zu binden.

Wie war dein Leben vor deiner Ehe?

Vor meiner Ehe hatte ich eine Beziehung mit einem sehr netten Menschen, der leider ein Drogenproblem hatte und mit HIV lebte, ohne es zu wissen. Wir hatten nur ein einziges Mal Sex und kurz danach lebte ich mit HIV. Ich wusste nicht, wie lange ich leben würde, weil es keine Behandlungsmöglichkeiten gab. Kurz nach meiner Diagnose zog ich mit meinem Freund nach Zürich. Ich wollte Deutsch lernen, aber es war auch eine Art Flucht. Ich mochte ihn sehr und wollte ihm helfen, von den Drogen loszukommen. Ich versuchte es eineinhalb Jahrelang, aber es gelang mir nicht, und so verliess ich ihn. Ich konnte nicht mehr weiterzusehen, wie er sich durch Drogen selbst zerstörte. Dann bin ich nach Delémont zurückgekehrt.

Wie war deine Rückkehr nach Delémont?

Ich habe mein Leben wieder aufgenommen, und jemand hat sich in mich verliebt, obwohl ich HIV habe. Das war aussergewöhnlich. Und besonders zu dieser Zeit. Es war 1988. Das war der Wahnsinn! Ich hatte das Gefühl zu gefallen, ein guter Mensch zu sein und akzeptiert zu werden, vor allem, weil das in meiner Familie nicht der Fall war.

Wie bist du mit deiner Diagnose umgegangen?

Am Anfang brach alles zusammen. Ich war in einem Schockzustand. Aber ich war jung, fühlte mich nicht krank und hatte eine Phase hinter mir, in der ich mich ein wenig verleugnet hatte. Ausserdem hatte ich ein optimistisches Temperament, war voller Leben, und das spielte eine grosse Rolle. Man wusste ohnehin nichts über die Krankheit, es gab keine Behandlung, alles war im Unklaren, also ging das Leben weiter. Meine grösste Sorge war jedoch, dass ich die Krankheit weitergeben könnte. Kurz darauf wurde in Europa immer mehr über HIV gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt gab es viel Diskriminierung, das war das Schlimmste für mich. Mir wurde zum Beispiel vorgeworfen, dass ich mich in einen Drogenabhängigen verliebt hatte. Bei häufigen Krankenhausaufenthalten war ich allein in einem Zimmer oder mit sehr alten Menschen zusammen. Bei Operationen war ich immer die Letzte und als ich entbunden habe, habe ich Ablehnung erfahren. Aber meine Lebensfreude und die Akzeptanz meiner Situation waren entscheidend dafür, dass ich das alles überstehen konnte. Schliesslich akzeptierte ich mich so, wie ich war. Ich hatte das Glück, einen Arzt zu haben, der sich für die Anliegen von Menschen mit HIV einsetzte, was damals nicht üblich war. Das hat mir sehr geholfen. Andererseits haben mich mein Zahnarzt und die Krankenschwestern, die die Bluttests machten, akzeptiert und respektiert.

Zurzeit machst du Peer-to-Peer-Beratung für Menschen mit HIV. Wie ist das?

Die Peer-to-Peer-Beratung ist sehr wichtig. Wenn du jemandem, der traurig und isoliert ist, ein Lächeln ins Gesicht zauberst, hat das etwas Magisches. Man hat mir viel gegeben, sei es im Gesundheitsbereich oder in der Liebe. Ich habe viel bekommen, und es ist normal, dass ich auch etwas zurückgebe. Irgendwie hatte ich Glück, aber ich habe das Glück auch erzwungen.

Du klärst auch in Schulen über HIV auf. Was ist die wichtigste Botschaft, die du den Schüler:innen mit auf den Weg gibst?

Wenn ich in die Schulen gehe, weiss ich nicht genau, mit wem ich es zu tun habe. Ich kann meine Erfahrung teilen, indem ich sage, dass es wirklich entscheidend ist, vorsichtig zu sein. Meine Botschaft ist, dass es zu Beginn einer Liebesbeziehung sehr wichtig ist, sich auf sexuell übertragbare Infektionen testen zu lassen. In einer exklusiven Beziehung kann man dann nach einem zweiten Test nach sechs Wochen auf das Kondom verzichten (im Falle eines negativen Testergebnisses), ohne das Risiko einer HIV-Infektion einzugehen.

Was sind die besonderen Herausforderungen für eine Frau mit HIV?

Mich hat in dieser Hinsicht am meisten diskriminiert, dass eine Frau isoliert ist. Frauen und Kinder werden stets vergessen, wenn es um HIV geht. Sie sind nie dabei, wenn es um neue Behandlungsmethoden geht. Stattdessen müssen sie die Behandlungen einnehmen, die oft zu hoch dosiert sind, weil sie für Männer und nicht für Frauen entwickelt wurden. Mit Hormonen, die nicht wie bei Männern funktionieren.

Wie war das, als HIV aufkam?

Am Anfang dachten alle nur an die vier H: Hämophile, Haitianer (Anm. der Redaktion: veralteter und dis- kriminierender Ausdruck für People of Color), Heroinabhängige und Homosexuelle. Aber wir hatten nicht an Heterosexuelle gedacht. Wir hatten das fünfte H vergessen, das aber wichtig war. Eine Frau, die mit HIV lebt, schämt sich mehr als ein Mann. Die Frauen wurden vergessen, und bei Heterosexuellen sind es oft die Frauen, die sich infiziert haben. Ein Mann kann die Infektion leichter auf eine Frau übertragen als eine Frau auf ihren Partner. Ich weiss, dass das Risiko bei Männern, die Sex mit Männern haben, am höchsten ist, aber wir dürfen die Frauen nicht vergessen. Im Gegensatz zu den Homosexuellenbewegungen, die sich angesichts der Pandemie schnell organisiert haben, sind Frauen isoliert, schweigsam und mit ihrer HIV-Infektion allein gelassen worden.

Schämt euch nicht!

Welchen Rat würdest du jemandem geben, der erst seit Kurzem mit HIV lebt?

Man kann mit HIV leben, man kann eine Familie mit HIV haben, man kann Sex mit HIV haben, und man kann seinen Job mit HIV behalten. Man muss seine Medikamente sehr gewissenhaft einnehmen. Heutzutage gibt es Behandlungen, die wirksam sind. Ich hatte nicht so viel Glück, weil die Behandlungen vor 1996 meinen Körper sehr verändert haben, ich habe Nachwirkungen und es ist manchmal schwer zu ertragen, aber ich muss damit leben. Man muss sich von einer ärztlichen Fachperson betreuen lassen. Es wäre wichtig, zu einer Person zu gehen, die ebenfalls mit HIV lebt und die einem Ratschläge geben kann. Man sollte nicht isoliert bleiben. Mir hat sehr geholfen, dass ich mich nie für meinen HIV-Status geschämt habe, und das möchte ich auch anderen vermitteln: Schämt euch nicht!