Um relevantes und nützliches Wissen zu produzieren, kann die Gesundheitsforschung nicht mehr über die Community oder sogar ohne sie stattfinden. Sie muss mit ihr oder besser von ihr durchgeführt werden.

Florent Jouinot, Projektmitarbeit Aids-Hilfe Schweiz 

In einem Kontext, in dem die Gesundheitsprobleme von LGBTIQ+ Menschen weiterhin durch Ungleichheiten, Stigmatisierung und Unsichtbarmachung gekennzeichnet sind, muss die Art und Weise, wie Forschung gedacht, durchgeführt und genutzt wird, hinterfragt werden. 

Macht über Forschungsthemen zurückgewinnen 

Eine der ersten Fragen, die gestellt wurden, war: Wer entscheidet über die Forschungsfragen? Auch heute noch werden die Forschungsgegenstände allzu oft von Behörden oder akademischen Einrichtungen ohne wirkliche Konsultation der Gemeinschaften festgelegt. 

Communitys sind nicht nur „Studienobjekte oder -subjekte“: Sie versammeln eine Vielzahl von Menschen, die über Wissen verfügen und die Macht haben, auf ihr Leben, ihre Gesundheit und im weiteren Sinne auf soziale Veränderungen Einfluss zu nehmen, wie sich in der Vergangenheit insbesondere im Gesundheitsbereich und vor allem angesichts der HIV-Epidemie gezeigt hat. Sie haben daher das Recht, die Bedingungen für ihre Beteiligung an der Forschung festzulegen: zu welcher Art von Forschung sie beitragen wollen oder nicht, in welchem Rahmen, nach welchen Werten, zu welchen Zwecken und mit welchen Vorteilen, einschliesslich der unmittelbaren Vorteile für sie. 

Partizipative Methodologien 

Gemischte Methoden (quantitativ und qualitativ) wurden nachdrücklich empfohlen, die sich von Anfang an und während des gesamten Prozesses auf die Arbeit vor Ort stützen: Kennenlernen und Verstehen der gelebten Realitäten und ihrer Determinanten, Ko-Konstruktion der Instrumente zur Datensammlung, Einbeziehung der Gemeinschaften in die Datensammlung, um die Vielfalt und Repräsentativität der Stichproben zu fördern, aber auch in die Analyse der Daten und die Interpretation der Ergebnisse sowie in die Formulierung von Empfehlungen oder die Festlegung von Massnahmen, die sich daraus ergeben sollen. 

Dieser Ansatz führt nicht nur zu besseren - feineren und repräsentativeren - Daten, sondern auch zu einer Maximierung der Auswirkungen der Forschung auf die öffentliche Politik und die Massnahmen der Gemeinschaft. 

Es geht darum, sich von der Haltung der traditionellen Forschung zu lösen, die dazu neigt, Gesundheit aus einer individuellen Perspektive zu betrachten, ohne die systemischen Herausforderungen zu berücksichtigen, die Menschen zu isolieren, ohne die Kraft der Solidarität und der kollektiven Mobilisierung zu nutzen, und ihnen die Verantwortung für ihre Gesundheit aufzubürden, während die Zugänglichkeit und Angemessenheit von Gesundheitsangeboten in Systemen liegt, die ihnen keinen oder nur wenig Platz einräumen. 

Schliesslich muss die Forschung direkt verwertbare Ergebnisse liefern: für die Anwaltschaft, die Gestaltung von Diensten und Angeboten oder die Information der Gemeinschaften selbst, damit diese in die Lage versetzt werden, angemessene Antworten auf ihre Bedürfnisse zu finden und zu entwickeln, auch wenn sie individuell oder kollektiv autonom sind. 

Für Gerechtigkeit und nicht für Ausbeutung 

Die Frage der Finanzierung wurde mehrfach angesprochen. Partizipative Forschung ist zeitaufwendig und erfordert erhebliche personelle und materielle Mittel, von denen ein grosser Teil auf die Gemeinschaften selbst entfällt (Zeitaufwand, Transportkosten...). Die Geldgeber können jedoch durch die Festlegung der Ziele oder der Forschungsmodalitäten manchmal die Beteiligung und die Innovation der Gemeinschaft einschränken. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Finanzierungsmechanismen so gestaltet werden, dass die Autonomie und der Nutzen für die Gemeinschaft der geförderten Projekte gewährleistet sind. Das von der Forschung mobilisierte und erzeugte Kapital sollte so weit wie möglich den Gemeinschaften zugutekommen (wirtschaftliches, intellektuelles, symbolisches Kapital usw.). 

Das Wissen (Kenntnisse und Fähigkeiten) der Gemeinschaften sollte nicht länger marginalisiert und ausgebeutet oder gar geraubt werden, sondern anerkannt, gestärkt, geschützt und aufgewertet werden. Dies geschieht durch akademische Anerkennung, aber auch durch konkrete Vorteile: Bezahlung der beteiligten Personen, Finanzierung von Gemeinschaftsorganisationen und -projekten, formale Validierung von Wissen, Nutzung von Forschungsergebnissen zum (unmittelbaren) Nutzen der Gemeinschaften... 

Vorsicht vor den Wirkungen 

Ein wichtiger Beitrag der Diskussionen bestand darin, daran zu erinnern, dass Forschung nicht neutral und risikofrei ist. Je nachdem, wie sie initiiert, durchgeführt, präsentiert oder genutzt wird, kann sie Stigmatisierungen verstärken und sogar Menschen gefährden. Die Ergebnisse bestimmter Studien können aus dem Zusammenhang gerissen und von feindlichen Akteuren instrumentalisiert werden, um stigmatisierende, diskriminierende, pathologisierende oder psychiatrisierende Diskurse zu nähren. 

Es stellt sich auch die Frage der Datensicherheit – eine grosse Herausforderung im digitalen Zeitalter – und der Auswirkungen von politischen Veränderungen auf die betroffenen Personen. Personen, deren Identität oder Lebensumstände gegen moralische oder sogar gesetzliche Normen verstossen (illegaler Aufenthalt im Land, Schwarzarbeit und/oder Sexarbeit, Gebrauch verbotener Substanzen), könnten identifiziert werden, Zielscheibe von Diskriminierung sein und ihre Grundrechte in Frage stellen oder ihre Existenz bedrohen. 

Wie kann man partizipative Gemeinschaftsforschung betreiben, wenn die Rechte und sogar die Existenz von LGBTIQ+ Menschen angegriffen werden, wenn die Finanzierung knapp wird und wenn die akademische Freiheit selbst bedroht ist? Mehr denn je ist es notwendig, die Fähigkeiten der Gemeinschaften zur Selbstorganisation und zur Wissensproduktion zu stärken. Die Gemeinschaftsforschung wird zu einem Werkzeug des Widerstands und des Empowerments. Sie ermöglicht es, Ungleichheiten sichtbar zu machen, die Stimme der am stärksten marginalisierten und/oder prekarisierten Personen zu erheben und konkrete Antworten zur Verteidigung der Rechte und zur Verbesserung der Lebensbedingungen und damit der Gesundheit von Gemeinschaften und Einzelpersonen vorzuschlagen. 

Gesundheitsforschung mit, durch und für LGBTIQ+ Menschen ist nicht nur eine Frage der Methode und Ethik, sondern eine notwendige politische Aktion.

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