Zwei Blicke zurück und einer nach vorn : Aids-Hilfe Schweiz

Zwei Blicke zurück und einer nach vorn

In keinem medizinischen Fach wurde im vergangenen Jahrzehnt wohl ähnlich viel geforscht wie auf dem Gebiet der HIV-Infektion. Vieles wurde dabei erreicht, die dringendsten Fragen scheinen beantwortet. Dennoch stehen neue Herausforderungen an. Der folgende Artikel soll einen Überblick über die grössten Errungenschaften der HIV-Medizin der letzten zehn Jahre geben und aufzeigen, welche Probleme in Zukunft zu lösen sind.

Dominique Laurent Braun
Dominique Laurent Braun arbeitet als Oberarzt mit erweiterter Verantwortung an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich und ist Privatdozent für Infektiologie an der Universität Zürich. Seit über zehn Jahren behandelt und betreut er Personen, die mit HIV leben.

Von Dominique Laurent Braunal | Dezember 2020

Am 30. Januar 2008 veröffentlichte die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen einen Artikel mit einer provokanten Botschaft: Unter erfolgreicher Therapie können HIV-infizierte Personen das Virus auf sexuellem Weg nicht mehr auf andere übertragen.

Das Swiss Statement

Dieses sogenannte Swiss Statement führte damals zu viel Kritik, insbesondere musste es sich den Vorwurf gefallen lassen, für die Proklamation dieser Botschaft sei die Datenlage zu gering. Zwölf Jahre später gilt das Swiss Statement als bewiesen: In den zwei sogenannten PARTNER-Studien wurde an Hunderten serodiskordanten heterosexuellen und MSM-Paaren untersucht, wie oft es bei ungeschütztem Sexualkontakt zu einer Übertragung von HIV kommt, wenn der HIV-positive Partner unter einer HIV-Therapie steht und die Viruslast auf höchstens 200 Kopien pro Milliliter Blut unterdrückt ist. Resultat: Bei über 130 000 Sexualkontakten konnte keine einzige Übertragung innerhalb der Paare festgestellt werden. Die Botschaft U = U («undetectable = untransmittable») hat inzwischen das Leben von Millionen Menschen, die mit HIV leben, nachhaltig verändert, Übertragungen verhindert und den Betroffenen ermöglicht, ihre Sexualität befreit und selbstbestimmt zu leben.

Weniger ist mehr

Im Jahr 2007 kam sie heraus: eine Tablette, die drei Wirkstoffe enthielt und unter dem Handelsnamen Atripla das erste sogenannte Single-Tablet Regimen (STR) darstellte. Seither sind weitere Kombinationspräparate auf den Markt gekommen und haben die Therapie unzähliger Patient_innen erleichtert. Wie Studien zeigen, verbessert sich die Therapietreue dank der einmal täglichen Einnahme und der reduzierter Pillenzahl – und dies bei gleichbleibender Wirksamkeit. Mittlerweile gibt es STRs, die nur zwei statt drei Wirkstoffe enthalten und damit das Potenzial haben, Langzeitnebenwirkungen und Kosten zu verringern. Trotz dieser Therapieerfolge stehen neue Herausforderungen an: Die am häufigsten eingesetzten HIV-Medikamente können bei bestimmten Personen zu einer starken Gewichtszunahme und damit verbunden zu einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Die Frage, wie diese Gewichtszunahme zustande kommt und wie man sie voraussagen kann, ist noch nicht geklärt und beschäftigt Forscher auf der ganzen Welt.

Der Berlin-Patient

Seit der Entdeckung von HIV im Jahr 1983 wird sie herbeigesehnt: die Heilbarkeit von HIV. Was zu Beginn der HIV-Pandemie schon in greifbarer Nähe schien, stellt auch mehr als drei Jahrzehnte später eine der grössten Herausforderungen dar. Wie HIV geheilt werden kann, erzählt die Geschichte von Timothy Brown, der als Berlin-Patient berühmt wurde. Brown wurde 1995 mit HIV infiziert und seither mit einer hochwirksamen HIV-Therapie behandelt. Als 2006 ein aggressiver Blutkrebs diagnostiziert wurde, wurde ihm in Form einer Stammzelltransplantation das gesunde Immunsystem eines HIV-negativen Spenders übertragen. Diese Stammzellen enthielten einen natürlichen genetischen Defekt, der die Immunzellen resistent gegenüber HIV machte und bei Brown dazu führte, dass HIV aus all seinen Körperzellen verdrängt wurde. Bis zu seinem Tod 2020 galt Brown als der einzige lebende Beweis, dass ein Mensch von HIV geheilt werden kann. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass eine Heilung erreicht werden kann, und aufgrund dieses Wissens die Hoffnung, dass weitere Patienten Timothy Brown folgen werden.

Neue Technologien im Kampf gegen HIV

Der Fortschritt der letzten zehn Jahre zeigt sich in der Vielzahl neuer Technologien, die zur Behandlung der HIV-Infektion erforscht werden. Das Bestreben dahinter ist klar: die HIV-Therapien noch einfacher zu gestalten und besser an die Wünsche der Patient_innen anzupassen. In einigen Ländern bereits zugelassen sind die sogenannten Long-acting-Substanzen, wobei zwei Wirkstoffe alle vier bis acht Wochen in den Gesässmuskel appliziert werden. Die Wirksamkeitsstudien zeigen eine Nichtunterlegenheit gegenüber der HIV-Dreifachtherapie, und glaubt man den Aussagen der Studienteilnehmenden, bevorzugen die meisten diese neue Verabreichungsform gegenüber den zu schluckenden Medikamenten. Andere weltweit laufende Studien untersuchen die Sicherheit und Wirksamkeit von Wirkstoffen, die über Vaginalringe, als Mikro-Patches über das Unterhautgewebe oder in Form von breit neutralisierenden Antikörpern als Kurzinfusionen in den Körper der Patientin oder des Patienten abgegeben werden. Am Horizont zeigen sich zudem neue Substanzgruppen, die in Kombination gegen hochresistente Virusstämme eingesetzt werden können und die Behandlung aller Patient_innen erlauben werden – sofern der Zugang zu diesen Therapien gewährleistet ist.

Trotz der enormen Fortschritte in der HIV-Medizin scheint ein Problem nicht wegtherapierbar zu sein:
die HIV-bedingte Stigmatisierung.

Erfolgreich therapiert, aber weiterhin stigmatisiert

Trotz der enormen Fortschritte in der HIV-Medizin scheint ein Problem nicht wegtherapierbar zu sein: die HIV-bedingte Stigmatisierung. Auch im Jahr 2020 werden viele Menschen mit HIV in diversen sozialen Bereichen weiterhin stigmatisiert – selbst im Gesundheitswesen. Eine Untersuchung der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) ermittelte 2015, weshalb sich Personen erst im späten Stadium der HIV-Infektion an das Gesundheitswesen wendeten: Der Grund war in fast der Hälfte der Fälle die Furcht vor Stigmatisierung im Bekannten- oder Freundeskreis. Kürzlich hat die SHCS ein neues Projekt lanciert, das die HIV-bedingte Stigmatisierung systematisch untersucht. Basierend auf den daraus gewonnenen Erkenntnissen sollen Interventionen entwickelt werden, um die HIV-bedingte Stigmatisierung abzubauen. Die Botschaft ist klar: Nein zu Stigma, Ja zur Solidarität.

Covid-19 und HIV

Während zu Beginn der Covid-19-Pandemie die Hoffnung bestand, dass mit dem HIV-Medikament Kaletra eine wirkungsvolle Therapie gegen Sars-CoV-2 zur Verfügung steht, zerschlug sich diese Hoffnung beim Vorliegen erster Studienergebnisse rasch: Wie so viele Medikamente, die im späteren Verlauf gegen Sars-CoV-2 getestet wurden, zeigt Kaletra keinen positiven Effekt auf den Verlauf der Covid-19-Infektion. Noch nicht restlos geklärt ist, ob Menschen mit HIV ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf aufweisen; aktuelle Publikationen scheinen dies zu suggerieren. Der Kampf gegen die Covid-19-Pandemie ähnelt demjenigen gegen Aids zu Beginn der Achtzigerjahre: Vieles ist noch zu erforschen, und das Testen neuer Therapien endet noch zu oft mit einer Enttäuschung. Eins jedoch ist jetzt schon klar: Noch nie hat die Menschheit in so kurzer Zeit so viel Wissen über eine neue Infektionskrankheit gesammelt. Bei HIV dauerte das bedeutend länger.

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