Ich bin HIV-positiv. Na und? : Aids-Hilfe Schweiz

Ich bin HIV-positiv. Na und?

Wie ist es, sich als HIV-positiver Mann zu outen, wenn noch immer weitherum Ignoranz und Vorurteile gegenüber HIV-positiven Menschen vorherrschen? Aus dem Blog eines heterosexuellen Mannes, der seit fünf Jahren mit dem Virus lebt.

Philipp Spiegel

April 2019 | Philipp Spiegel

«Ich hätte lieber Krebs als HIV!», sagte die Studentin in die Runde. «Auf jeden Fall!», sagte daraufhin eine andere. Alle nickten mit. Ich starrte sie ungläubig an. Schweissperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich verkrampfte mich, bekam zittrige Hände. Kochend vor Wut biss ich die Zähne zusammen und dachte: «Soll ich was dazu sagen? Sie aufklären? Von der Nachweisgrenze erzählen? Ahnen sie, dass ich HIV-positiv bin?»

Philipp Spiegel

In meinem Leben als Fotograf heisse ich Christoph Philipp Klettermayer. In meinem Leben als Autor und Künstler heisse ich Philipp Spiegel – ein Pseudonym, das ausschliesslich für meine HIV-bezogenen Arbeiten steht und als persönliche Abgrenzung dient.

www.philipp-spiegel.com
www.cklettermayer.com

Die dunkle Bar stank nach kaltem Rauch und altem Bier. Im Hintergrund dröhnte eine Best-of-CD von Queen, das Gespräch über Queen hatte zu Freddie zu HIV zu Aids geführt. Ich kannte das Geburtstagskind auf dieser Party nur flüchtig. Ihre Freundinnen hatte ich gar nicht gekannt, aber die jungen Frauen hinterliessen einen prägenden Eindruck. Ich wollte schreien. Sie anbrüllen. Auf den Tisch schlagen. Mein Glas gegen die Wand werfen. Irgendwas tun, um dieser angestauten Mischung aus Frust, Wut und Verzweiflung freien Lauf zu lassen. «Nur nichts anmerken lassen, sie wissen nichts von mir», versuchte ich mich zu beruhigen. Ich atmete tief durch. Ein paar Minuten hielt ich noch aus, bis ich mich aus der Bar schlich, um mich in Luft aufzulösen.

Die ersten Outings waren am schlimmsten

Ihre Aussagen sassen mir noch lange im Nacken. Die darauffolgenden Nächte waren qualvoll. Ich konnte nicht aufhören, an die vergangenen drei Jahre zu denken, an die vielen Male, als ich Freunden oder Familienmitgliedern von meinem Status erzählt hatte – und an die Narben, die meine «HIV-Beichten» hinterlassen hatten. Es war ein anstrengendes Ritual, stets begleitet von Schuld und entsetzten Blicken. Die ersten Male waren die schlimmsten. Die Worte blieben mir immer im Hals stecken. Sie wollten nicht ausgesprochen werden. Das würde sie zu real machen. Mit viel Anstrengung schaffte ich es dann doch immer wieder, den magischen Fluch zu flüstern: «Ich bin HIV-positiv.» Damit übergab ich meinem Gegenüber jedes Mal einen tonnenschweren Rucksack – voller Fragen, Sorgen, Erzählungen und Vorurteilen. Und musste auf eine unberechenbare Reaktion warten. Wut? Angst? Sorge? Meistens kam ein verhaltenes Schweigen als Antwort.

Bis jetzt hatte ich Glück. So schwer es auch für meine Freunde und Familie war, meinen Rucksack anzunehmen, wurde ich doch niemals ausgestossen oder schlecht behandelt. Trotzdem schleppte ich eine Schuld mit. Mit jedem Mal blieb eine Nervosität zurück – aber sie wurde immer erträglicher. Wiederholungen führten zu einer Normalisierung, zu einer neuen Realität. Mittlerweile kannte ich mich gut mit der Medikation und ihrer Wirkung aus. Mein Wissen über HIV begann mich zu beruhigen. Dadurch erkannte ich, dass ich das Gewicht meines Rucksacks mitbestimmen konnte. Je souveräner ich davon erzählte, desto leichter wurde er angenommen. Ich fing sogar an, mit zynischem Humor von meinem Status zu erzählen. Wenn HIV für mich kein grosses Problem mehr ist – warum sollte es das für mein Gegenüber sein?
Wie nach dieser Party fragte ich mich trotzdem immer wieder: Warum ist es für HIV-positive Menschen so schwer, sich zu zeigen? Warum verstecken sich so viele Betroffene? Warum habe auch ich diese Angst, sichtbar zu werden? Sogar Angst, diesen Text zu schreiben?

Jedes Outen ist wie einen Rucksack füllen – oder leeren

Seit meiner Diagnose im Januar 2014 kamen stets dieselben Warnungen. «Erzähl es bloss niemandem», flüsterten mir Freunde zu. «Du musst ganz vorsichtig sein, wem du das anvertraust», rieten mir andere. Denn HIV hinterlässt Gerüchte, die sich im Umfeld verbreiten. Meine Familie und Freunde wurden auf mich angesprochen. Einmal mehr fühlte ich mich schuldig – ich hatte schon wieder für Unbehagen bei meinen Mitmenschen gesorgt. Jedes Mal, wenn ich Gespräche über HIV oder Aids in meinem Umfeld mitbekam, spitzte ich die Ohren. Ich war immer wieder erstaunt über die abstrakten Theorien, Beschimpfungen und Anschuldigungen. «Das haben ja nur Schwule, Nutten oder Perverse.» Der Ton solcher Kommentare war stets vorwurfsvoll. Aids/HIV? «Unmoralisch. Grässlich. Selber schuld.» Und ich schwieg weiter. Ohnmächtig in meinem stummen Versteck. Gelähmt von der Angst, entlarvt zu werden.

Doch mein Bedürfnis, von HIV zu erzählen, wuchs. Meine Faszination für das Virus, die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Krankheit und mein Wunsch nach Aufklärung gaben mir langsam den Mut, mich zu äussern. Zaghaft fing ich an. Ein Interview hier, eine Erzählung da, begleitet von denselben dummen Fragen, die HIV und die Stigmatisierungen noch immer in den Achtzigern verankern. Immer wieder bei null beginnen müssen: «Was ist der Unterschied zwischen Aids und HIV?» und «Wie ist das denn so für dich?» Die Interviewerinnen hatten stets mitleidige Blicke und Samthandschuhe. Mir ging das tierisch auf die Nerven.

Trotzdem, ich erzählte immer offener und lockerer über HIV. Und ich fand Zuspruch. Ärzte, Lehrer und Betroffene meldeten sich bei mir und bedankten sich für meine aufklärerischen Worte. Ein Lehrer sagte, er verteile meine Texte in seiner Klasse. Eine Ärztin fing an, mir von ihren Erfahrungen zu erzählen.

Mit viel Anstrengung schaffte ich es dann doch immer wieder, den magischen Fluch zu flüstern: ‹Ich bin HIV-positiv.›

Doch mein Bedürfnis, von HIV zu erzählen, wuchs. Meine Faszination für das Virus, die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Krankheit und mein Wunsch nach Aufklärung gaben mir langsam den Mut, mich zu äussern. Zaghaft fing ich an. Ein Interview hier, eine Erzählung da, begleitet von denselben dummen Fragen, die HIV und die Stigmatisierungen noch immer in den Achtzigern verankern. Immer wieder bei null beginnen müssen: «Was ist der Unterschied zwischen Aids und HIV?» und «Wie ist das denn so für dich?» Die Interviewerinnen hatten stets mitleidige Blicke und Samthandschuhe. Mir ging das tierisch auf die Nerven.Trotzdem, ich erzählte immer offener und lockerer über HIV. Und ich fand Zuspruch. Ärzte, Lehrer und Betroffene meldeten sich bei mir und bedankten sich für meine aufklärerischen Worte. Ein Lehrer sagte, er verteile meine Texte in seiner Klasse. Eine Ärztin fing an, mir von ihren Erfahrungen zu erzählen.

Die Moralprediger schlagen zurück

Ich erfuhr von vielen Menschen, die sich, so wie ich, verstecken, in Einsamkeit leben und die pausenlose Angst ertragen, entlarvt zu werden. Vom HIV-positiven Mann, der im Gasthaus stillschweigend ein Lächeln vortäuscht, während seine Freunde auf die «Schwuchteln» schimpfen und sagen, dass Conchita Wurst Aids verdient habe. Von der jungen Frau, die sich nicht traut, den Eltern zu erzählen, dass sie HIV-positiv ist. Sie beschmutzt den Ruf der Familie. Und was würden denn die Nachbarn denken? Von Kommentaren wie: «Mein Mitleid hält sich in Grenzen», «Der verheimlicht sicher perverse Praktiken!», «Wie kommt der Steuerzahler dazu, so jemanden zu finanzieren?» oder «Ist doch selbstverschuldet!» Doch genau diese Erzählungen motivierten mich, noch aktiver zu werden.

Parallel dazu wuchs aber die Wut der Ewiggestrigen. Auf Nachrichten über HIV und Aids wird noch immer mit angstgetriebenem Hass und empörten Moralpredigten reagiert. Also legte ich noch einen drauf. Ich fing an, auch von Dating, Sexualität und meinem eigenen Sexleben zu erzählen, von Nachweisgrenzen, Kondomen und Safer-Sex-Praktiken. Und dass ich manchmal meinen positiven Status nicht erwähne.

«KRIMINELL!», schrieb einer in den Kommentaren, «der verseucht unschuldige Frauen mit dieser Schwulenseuche!» «So etwas gehört kastriert!», forderte ein anderer. Die Empörung war riesig: «Der ist eine Gefahr für die Gesellschaft! Wegsperren! HIV-Positive sollen registriert werden! Das Strafrecht muss ausgeweitet werden! Die Nachweisgrenze? Pah! Lügenpresse!» Ich merkte, dass ich mich in einer ausweglosen Situation befand. Zeige ich kein Gesicht, bin ich ein Feigling, eine «erfundene Geschichte». Alles ist bloss Angstmache. Zeige ich mich, bin ich der selbstverliebte Egomane, der Selbstdarsteller.

Die Angst der anderen verzeiht nicht

Jedoch musste ich noch viel mit mir selbst ausmachen. Der emotionale Rucksack, den mir HIV gegeben hatte, wog weiterhin schwer. «Hätte ich doch nur ...», sagten meine Gedanken noch immer, «warum habe ich nicht ...?» Die wiederkehrenden Mantras der HIV-Positiven, die auch meine Seele auffrassen.

So leiden viele. Ohne Stimme. Ohne Ansprechpartner. Führen ein verschwiegenes Doppelleben inmitten der Gesellschaft, ohne Ahnung, wem sie die HIV-Diagnose tatsächlich anvertrauen können. Dem besten Freund? Den Eltern? Dem Stammtisch? Wer wird mich verurteilen? Wer wird es weitererzählen? Wem wird es egal sein?

«Das Outing ist eine Einbahnstrasse. Einmal erzählt, kann es nie wieder zurückgenommen werden. Aber es ist auch eine Befreiung.»

Das Outing ist eine Einbahnstrasse. Einmal erzählt, kann es nie wieder zurückgenommen werden. Aber es ist auch eine Befreiung. Ich probierte immer wieder neue Wege aus, um von meinem Status zu erzählen. Bei einem Date fragte ich sogar mit einem frechen Grinsen: «Wie würdest du reagieren, wenn ich dir sagte, dass ich HIV-positiv bin?» Sie blickte mich neugierig an. Sie überlegte kurz. Sie lächelte. «Du verdammter Bastard. Du weisst genau, dass du gerade viel interessanter geworden bist.» Womit eine kurze, intensive und wunderschöne Beziehung anfing.

Ich bin HIV-positiv. Na und?

Ich habe Familie und Freunde, die mich nie be- oder verurteilt haben. Von denen ich, in aller Demut und Dankbarkeit, nichts als Empathie und Liebe erfahren habe. Ich habe Geliebte, die kein Problem mit meinem Status haben. Und ich habe eine hervorragende Therapeutin. Ich schreibe und mache Ausstellungen über HIV und Sexualität. Trotz der Abhängigkeit von Medikamenten bereise ich die Welt. Ich habe ein ziemlich geiles Leben. Ich will aufklären. Ich will mit HIV arbeiten, über HIV berichten. Ich will erzählen und motivieren. Schliesslich kann ich selbst entscheiden, welchen Platz HIV in meinem Leben einnehmen soll – und nicht umgekehrt. Und ich durfte schon einigen Menschen damit helfen.

HIV ist weiterhin tödlich, weshalb es essenziell ist, seinen Status zu kennen. Zum Selbstschutz und zum Schutz der anderen. HIV betrifft Heterosexuelle. HIV betrifft Homosexuelle. HIV betrifft Frauen und Männer. HIV macht keine Unterschiede.

Lieber selbstverliebt aufklären als selbstverhasst schweigen.

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