HIV und Spass, Schweiss, Sex
Christopher Klettermayer, seit Jahren unter der Nachweisgrenze mit HIV, schreibt über seine Erfahrungen beim Daten. Immer wieder ist der Hetero-Mann erstaunt, wie angstvoll Menschen auf sein Outing reagieren und wie wenig sie über HIV wissen. Aber auch er selbst ist nicht vor Ungereimtheiten gefeit.

Christopher Klettermayer | Juli 2022
Es ist kurz nach dem ersten Covid-Lockdown – der Frühling ist voll in Schwung, die Frühlingsgefühle umso mehr. Die Lust auf neue Menschen, neue Abenteuer und Erfahrungen ist riesig. Aber die Möglichkeiten dazu sind weiterhin stark eingeschränkt.
Eine Impfung gibt es noch nicht, und eine stetige Vorsicht ist schon angebracht. Nichtsdestotrotz stürze ich mich wieder einmal in mein verhasstes Onlinedating. Ich muss mal wieder ausbrechen! Ich suche Spass, Schweiss und Sex. Und dafür scheinen diese Apps momentan der einzige Weg zu sein. Ich lege das Profil an: Fotos älter, als sie sein sollten, der Text interessanter, als mein Leben tatsächlich ist. Und los geht’s! Wischen, wischen, Match! Aufgeregt und erwartungsvoll sammle ich meine Matches und organisiere mir die Dates. Easy angehen – schliesslich gibt’s noch die Pandemie, auch wenn wir alle versuchen, sie hin und wieder auszublenden.
Ich treffe Elisabeth. Der Abend ist lau und gemütlich, eigentlich ein Traumwetter, um umschlungen durch die Innenstadt zu spazieren. Beim ersten Treffen wirken manche dieser Onlinedates ein bisschen wie Vorstellungsgespräche. Abklappern der Hard Facts, gemischt mit antrainiertem Balzverhalten. Aber gelegentlich kommt Spannung rein. Leider merke ich sofort, dass es diesmal nicht so ist. Die Connection fehlt, der «Klick» bleibt aus. Zumindest ist das mein erster Eindruck. Aber ich habe mich schon oft geirrt – wer weiss, was da noch kommt. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Also schlendern wir zu einer kleinen Bar, setzen uns auf die Terrasse und stellen uns einander vor.
Sie ist 37, hat studiert, einen interessanten Job und ein sehr geregeltes Leben. Es folgen peinliche Witze, dann ein Stocken, dann ein uns umhüllendes unangenehmes Schweigen und schliesslich der Versuch, ins Gespräch zu kommen.
Jetzt bin ich an der Reihe. Ich weiss nicht, ob es die Pandemie-Erfahrung ist, die erzwungene Isolation, doch mittlerweile ist für mich ein offener Umgang mit HIV zu etwas Selbstverständlichem geworden. Auch dass ich meinen Dates davon erzähle. Ich hänge es nicht an die grosse Glocke, erwähne es meist nebenbei. «Ich schreibe über Sachen wie Sexualität, weil ich durch meine HIV-Diagnose eine spannende Auseinandersetzung damit hatte …» Punkt. Mehr ist es nicht. Ein Nebensatz, eine Banalität. Es ist mir irgendwie egal. Mir käme es eigenartig vor, wenn ich nicht von HIV erzählen würde.
Küssen mit HIV?
Und so auch diesmal wieder. Ich rede und rede, versuche Interessantes in unser träges Gespräch zu bringen. Plötzlich fällt mir ihr Gesicht auf. Bleich, verängstigt, aufgerissene Augen. Als sitze sie einem Geist gegenüber. Überrascht und leicht besorgt frage ich: «Ist alles in Ordnung? Ist etwas passiert?»
Entgeistert, entsetzt und verängstigt schaut sie sich um, damit uns ja niemand hört. Dann flüstert sie: «Du hast HIV?»«Ääh … ja. Aber schon lange. Und … äh …», ich gerate ins Stottern. Ihre Panik hat mich sprachlos gemacht. Normalerweise würde ich jetzt das Aufklärungsgespräch anfangen – dass ich nicht ansteckend bin, dass ich Kinder bekommen kann, dass ich nur eine Pille am Tag nehme … Aber ihr Entsetzen verstört mich. Ich lehne mich zurück, perplex.
«Kann man das durchs Küssen bekommen?», fragt sie.
Ernsthaft?! Jetzt tauschen wir die Gesichtsausdrücke. Entsetzt blicke ich sie an … und bin fast sprachlos. «Nein, nein … um Gottes willen. Das war noch nie so … auch damals nicht … äh.» Ein tiefes Schweigen breitet sich aus.
Wo soll ich anfangen? Will ich überhaupt anfangen? Wenn jemand so weit von den harten Fakten entfernt ist, frage ich mich, ob es überhaupt Sinn macht, mit der Aufklärung anzufangen.
Ich verstehe nicht, wie diese Wissenslücke da sein kann. Ihr Alter spricht für eine leise Ahnung von der Aids-Pandemie, wo doch ein bisschen aufgeklärt wurde. Auch wenn die Fakten schwammig waren, wäre da doch zumindest ein Ansatz gegeben. Ihr Beruf zeugt von Bildung, von Studium. Wie kann sich da diese Wissenslücke breitgemacht haben? Es ergibt keinen Sinn. Die nächste halbe Stunde quälen wir uns durch ewig langen, banalen Smalltalk, um uns endlich von der unangenehmen Spannung zu befreien und uns zu verabschieden. Im Wissen, dass wir uns niemals wiedersehen werden.
Leben in der Blase
Weiterhin perplex mache ich mich auf den Heimweg. Zu Fuss, um meine Gedanken zu sammeln. Ich lebe mit HIV, ich lebe mit den Fakten, meiner Erfahrung und mit meinem Umfeld. Gleichzeit ist mir bewusst, dass ich mich in einer Blase befinde. In einer aufgeklärten Wissensblase, in der jeder und jede alles über HIV weiss. In der die Nachweisgrenze eine Selbstverständlichkeit ist. In der wir freie Liebe und Offenheit predigen und leben. In der wir aufgeklärt sind. Aber es ist nun mal eine Blase – die auch ihre Vorurteile hat.
Ich fange an, an meiner Reaktion zu zweifeln. War das richtig? Habe ich überreagiert? Klar kann ich mit dem Finger auf Elisabeth zeigen und ihr Dummheit oder Ignoranz vorwerfen. Aber kann ich davon ausgehen, dass man weiss, dass man HIV nicht durchs Küssen bekommen kann? Offensichtlich wissen es ganz viele Menschen nicht. Bin ich in meiner Blase derart abgehoben, dass ich mittlerweile auch ignorant geworden bin? Muss ich in dieser Blase nicht immer wieder darauf aufmerksam machen, dass ich ein heterosexueller Mann bin – mit HIV?
Wie so oft versuche ich mich daran zu erinnern, wie das bei mir vor der Diagnose war. An mein Leben vor HIV. An mein Halbwissen, das ich aus meiner Schulzeit und meiner Arbeit mitbrachte. Von den HIV-Organisationen, die ich in Indien besucht hatte – lange vor meiner Diagnose. Was war da hängen geblieben?
Klar, dass Küssen HIV nicht überträgt, war verankert. Aber viel mehr auch nicht. Nichts von der Nachweisgrenze, nichts von der einen Pille pro Tag, von Safer Sex oder dem tatsächlich normalen Leben. Als Hetero-Mann würde mich HIV ja eh nicht betreffen …
Allzu weit muss ich nicht zurückblicken, um meinen Lernprozess zu verfolgen. Da reicht der Blick auf meine letzte Beziehung mit Karla. Nach ein paar Monaten beschlossen wir, das Kondom wegzulassen. Schliesslich war ich in Sachen U=U, Safer Sex und Nachweisgrenze bereits gut geschult. Ein fast tägliches Mantra. Ich wusste alles. Zumindest im Kopf.
Ich fing an Panik zu schieben. Panik, dass ich
meine Freundin womöglich mit HIV angesteckt hatte. War ich leichtfertig gewesen?
So viel ich über HIV im Kopf wusste, emotional war ich nicht überzeugt.
Mein Bauchgefühl war jedoch noch nicht so weit. Zwei Monate nachdem wir aufs Kondom verzichtet hatten, wurde Karla krank. Sie war mit hohem Fieber ans Bett gefesselt, ich machte ihr Tees und Suppen. Und im Bauchgefühl rumorte es. Ja, ich wusste alles über die Nachweisgrenze. Dass ich HIV nicht übertragen kann. Aber war es auch TATSÄCHLICH so? Konnte ich tatsächlich auf diese harten Fakten vertrauen? Ich zweifelte an mir und an meinem Wissen. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich fing an Panik zu schieben. Panik, dass ich meine Freundin womöglich mit HIV angesteckt hatte. War ich leichtfertig gewesen? So viel ich über HIV im Kopf wusste, emotional war ich nicht überzeugt.
Bis wir den Test machten. Ich erklärte Karla meine Sorgen, meine Angst … und sie blieb ruhig. Sie liess sich nicht beirren. Sie hatte sich wegen mir auch mit der Materie beschäftigt, und jetzt war sie diejenige, die mich beruhigen konnte. Natürlich war ihr HIV-Test negativ, natürlich war sie safe, natürlich war ich nicht ansteckend. Und bin es weiterhin nicht. Höchs–tens meine Angst – die hätte ansteckend sein können.
Seither hat sich mein Bauchgefühl verändert. Heute weiss ich, wie sicher ich bin, wie sicher die Nachweisgrenze ist, nicht nur im Kopf, sondern auch im Bauch. Aber das hat gedauert.
Sogar ich, der ich mich tagtäglich mit HIV auseinandersetze, hatte meine Bedenken zu den Hard Facts. Wie soll es da jemandem gehen, der, wenn es hoch kommt, einmal im Jahr zum Welt-Aids-Tag ein Interview oder einen Artikel liest? Der ausserhalb meiner Wissensblase lebt, in einer komplett anderen Welt, mit anderen Prioritäten. Da wird diese Information nicht hängen bleiben. Nicht, wenn wir sie nur untereinander teilen.
Wir brauchen ein Update. Ausserhalb unserer Wissensblase. Wir müssen diese andere Welt mit unserem Wissen erreichen, ohne sie ignorant oder dumm zu schimpfen. Wir müssen mit dieser anderen Welt sprechen, in der HIV noch durchs Küssen übertragen wird.
Christopher Klettermayer
Ich bin Autor, Fotograf und Künstler. Vor meiner HIV-Diagnose 2014 arbeitete ich als Fotograf in den Bereichen Reportage und Mode. Nach meiner Diagnose rückten für mich das Thema HIV und die gesellschaftlichen und soziologischen Aspekte des Virus in den Vordergrund. Bis vor Kurzem arbeitete ich unter dem Pseudonym Philipp Spiegel. Heute versuche ich meine künstlerischen Tätigkeiten mit dem Schreiben über mein Leben mit
HIV und über Sexualität und Männlichkeitskonstrukte zu verbinden.