Auf Messers Schneide : Aids-Hilfe Schweiz

Auf Messers Schneide

Philipp Spiegel lebt seit einigen Jahren mit dem HI-Virus. Wie er die Corona- Pandemie und den Umgang mit dem neuen Virus erlebt hat, schildert er in seinem neusten Text.

Ich setze das Messer zum Schneiden an. Die Zwiebel rutscht mir unter den Fingern weg. Die scharfe Klinge trifft das Schneidebrett. Fast erwische ich den Finger.
Plötzlich erstarre ich. Meine Freunde sind im Wohnzimmer. Sie bereiten andere Dinge zum Kochen vor, Paprika, Tomaten, alles Mögliche. Aber ich steh einfach nur da, halte das Messer fest. Habe Angst, es fallen zu lassen. Angst, was ich damit anrichten könnte. Zum Glück bin ich allein in der Küche. Ein Gefühl der Schockstarre erfasst mich. Was jetzt?
Was, wenn ich mich geschnitten hätte? Was hätte ich sagen sollen? Oder sagen müssen? Ich hätte das Essen vergiftet. Die Küche infiziert.

Seit meiner HIV-Diagnose sind keine vier Monate vergangen. Den wenigsten habe ich davon erzählt, schon gar nicht den Freunden im Wohnzimmer. Ich kann es ihnen nicht sagen – ich kann es ja mir selber nicht eingestehen. Ich komme mir giftig vor. Dieses infizierte Blut, das durch meine Adern fliesst, kommt mir ausserirdisch vor. Als ob sich ein fremder Organismus in mich eingenistet hätte und sich ausbreitet. Ich bilde mir ein zu spüren, wie sich dieses Etwas unter meiner Haut bewegt. Ein Kribbeln. Ein Kitzeln. Ein Fremdkörper.

Philipp Spiegel

In meinem Leben als Fotograf heisse ich Christopher Klettermayer. In meinem Leben als Autor und Künstler heisse ich Philipp Spiegel – ein Pseudonym, das ausschliesslich für meine HIVbezogenen Arbeiten steht und als persönliche Abgrenzung dient. Seit 2013 bin ich HIV-positiv, seit dem 2. Januar 2014 weiss ich davon, und seit 2017 schreibe ich regelmässig über mein Leben mit HIV.

www.philipp-spiegel.com
www.cklettermayer.com

Und hätte ich mich jetzt geschnitten, wäre dieses toxische Blut überall. Hätte die Küche verätzt. Das Essen versaut. Ich müsste es erzählen, müsste mich schämen. Mich hassen.
Ganz vorsichtig setze ich nochmals an. Ein Schnitt nach dem andern, dann der nächste, dann der nächste. Ich atme tief aus. Es geht weiter. Die Starre verflüchtigt sich. Ich muss nicht beichten. Ich muss es nicht erzählen. Ich kann meine Maske wieder aufsetzen, so tun, als ob mein Leben normal wäre.

Aber ich weiss, ich bin nicht mehr ich. Ich bin nicht mehr allein. Plötzlich bin ich mehr als ich. Ein symbiotisches Wesen. Verbunden mit diesem Etwas, das mich umbringen würde, wenn ich mich nicht darum kümmere. Wenn ich nicht täglich meine Pille nehme.
Das war die erste Phase meiner körperlichen Entfremdung.

Ein paar Tage später bin ich wieder in der Aids- Hilfe zur psychologischen Beratung. Schon seit Wochen geht es bei meinen zahlreichen Beratungsgesprächen ums Thema Sex – und um meine Angst davor. Nicht nur mein Blut kommt mir nämlich toxisch vor, sondern auch mein Sperma. Mein Penis ist eine tödliche Spritze geworden. Ein Giftstachel. Eine Gefahr für die, die mir zu nahe kommen. Intimität mit mir kann tödlich sein. Sternzeichen Skorpion: Das kommt mir schon fast zu ironisch vor.

Mein Körper hat allerlei Erfahrungen gesammelt. Und das ist gut so. Ausserdem sind meine Hände wunderschön.

Hinzu kommt die Angst, als schmutzig gesehen zu werden, «gebraucht». Wenn man derart an sich selber zweifelt, ist der übertriebene Konsum von Alkohol (oder sonstigen Drogen) nicht weit. Ich will mich nicht schönsaufen – ich will mich wegsaufen.

In diesem kalten Gebäude in Wien, das ich mit meinem Albtraum der Neudiagnose assoziiere, fühle ich mich klein und erschöpft. Während ich auf meinen Termin warte, fallen mir die Unmengen an Broschüren zu Schwulen-Klubs, Dating-Sites und sonstigen Gay-Guides in dieser Stadt auf. Darauf prangen ausschliesslich schöne junge Burschen in lasziven Posen. Waschbrettbauch, knackiger Arsch, strahlend weisse Zähne, volle Haarpracht. Als Hetero fühle ich mich hier fehl am Platz. Als Hetero, der nie Sport macht (oder machen musste), umso mehr. Ich bin zwar schlank. Noch. Aber mein Bauch wird dicker, mein Haar dünner. Meine Haut ist blass, ausgetrocknet und pickelig.

Hunderttausend Gedanken geistern seit der Diagnose durch meinen Kopf. Immer wieder kriege ich es mit rasender Angst zu tun.
Angst um meinen Körper. Angst davor, was dieses Virus mit mir anstellen wird. Und die Medikamente, die ich seit ein paar Wochen einnehme. Einerseits verfolgen mich die Bilder aus den Achtziger- und Neunzigerjahren. Diese eingefallenen Gesichter der Aids-Betroffenen, diese dürren, knochigen Menschen. Werde ich auch so aussehen? Wird man mir HIV ansehen können? Ich habe Angst, dürr und knochig zu werden.

Andererseits macht mein Körper gerade andere Erfahrungen durch. Da ich zu jedem Medikament etwas essen soll, begleiten mich schon seit Wochen Übelkeit und Völlegefühl. Jeden Abend vor der Einnahme stopfe ich noch Essen in mich rein, meist ohne auch nur ein Anzeichen von Hunger. Ich komme mir pausenlos vollgefressen vor. Im Beipackzettel steht, Gewichtszunahme sei üblich. Ich habe Angst, fett und aufgebläht zu werden.

Scheisse. Muss ich jetzt tatsächlich Sport machen? Gleichzeitig, denk ich mir, bin ich ja Teil des Problems. Immerhin mache ich Modefotografie. Zuerst wird mit Make-up falsifiziert, und wenn das nicht reicht, gehe ich nochmals im Photoshop drüber. Merze minutiös Unreinheiten aus. Die Augen ein wenig aufhellen, die Haarwelle noch etwas welliger machen. Falten weg, Fett weg, ungewollte Rundungen gerade ziehen. Dabei habe ich nie gern retuschiert.

Eine gute Freundin meinte einmal, es brauche Mut, sich hässlich schön zu finden. An meinem Selbstporträt habe ich lediglich die Tiefen dunkler gemacht. Kontrastreicher. Um meine Unreinheiten und Falten hervorzuheben. Ganz ohne Weichzeichner.

Nicht nur weil ich die Arbeit langwierig und öd finde. Ich mochte diese falsche Perfektion nicht. Ich fand es immer schön, gewisse «perfect imperfections» hervorzuheben. Die Narbe am Kinn, das einzigartige Muttermal auf der Schulter. Die Frau auf dem Bild in natura wirken zu lassen. Peter Lindbergh style.

Auch mich selbst definierte ich früher nie über mein Aussehen. Einerseits war ich sowieso immer spindeldürr. Andererseits wusste ich: Ich bin mehr. Ich bin meine Geschichten, meine Abenteuer, mein Draufgängertum. Ich bin mehr als das Bild. Zumindest im realen Leben. Aber jetzt, heute? Was bedeutet Mann sein im Jahr 2020?

Im Sog der sozialen Medien hat die Falsifizierung inzwischen den Turbo eingelegt. Jedes Smartphone hat automatisch den Weichzeichner im Selfie-Modus. Man erkennt keine Haut mehr, nur noch die aalglatte Plastik-Visage. Pseudoperfektion steht über allem. Online, insbesondere beim Dating, wird man eben doch auf ein Bild reduziert. Und da die Konkurrenz ja auch zu diesen Tricks greift, stehe ich unter Zugzwang. Bei einem Autorennen mit einem Dreirad aufkreuzen? Keine Chance.

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich in der umgekehrten Rolle, als Betrachter, besser bin. Aber die konstante mediale Suggestion, wie eine Frau auszusehen hat, beeinflusst mich genauso. Ich urteile viel zu schnell. Schneller als noch vor vielen Jahren. Wir sind alle Opfer des Weichzeichners. Haben uns daran gewöhnt, nur noch retuschierte Menschen zu sehen. Und auch ich falle darauf rein. Obwohl ich die Tricks kenne, obwohl ich die Post-Korrekturen auf Bildern sofort durchschaue, obwohl ich die Wahrheit über die Unwahrheiten weiss.

Heute, Jahre später, fühl ich mich lange nicht mehr toxisch. Hab mich mit meinem kleinen Virus angefreundet, bin weder fett und schwammig noch dürr und knochig geworden. Jedoch kommt nun das tückische Alter hinzu. Jahre des Alkoholkonsums und der Sportlosigkeit haben mich in die Breite wachsen lassen. Das verunsichert mich. Ich bin nicht mehr knackig, schlank und sportlich. Ich bin so … schwabbelig. Wampe statt Waschbrett? Schütteres Haar statt schulterlanger Mähne? Der Zweifel, nicht schön genug zu sein, nagt nun doch an meinem Selbstbewusstsein.

Letztes Jahr, 2019, fühlte ich mich noch halbwegs schlank. Noch erträglich. An den Strand gehen war mir egal. Aber 2020 ist etwas passiert. Der Metabolismus hat sich verändert. Plötzlich sehe ich auf Bildern anders aus. Fülliger. Breiter. Massiger. Fetter. Mir geistert die Schuldfrage im Kopf herum. Bin das ich? Oder kann das tatsächlich mit meinen Medikamenten zu tun haben? Mit der täglichen Einnahme von antiretroviralen Pillen? Immerhin ist das ja eine der bekannten Nebenwirkungen.

Meine Verunsicherung ist gross. Dem Strandbesuch gegenüber bin ich skeptisch. Zwar habe ich mittlerweile eingesehen, dass ich Sport machen muss. Aber irgendwie scheint nichts mehr zu wirken. Krampfhaft versuche ich mich als Sportler. Ganz erfolgreich, aber zum Sixpack reicht’s noch lange nicht. Ich verzweifle immer wieder daran.

Für einen, der sich nie ums Gewicht sorgen machen musste, ist die Veränderung meines Körpers plötzlich ein Thema. Ein riesiges Thema. Mein Selbstbewusstsein leidet. Dazu noch die aufpolierte Bilderflut im Netz, die sich in den letzten Jahren radikalisiert hat.

Für einen, der sich nie ums Gewicht sorgen machen musste, ist die Veränderung meines Körpers plötzlich ein Thema. Ein riesiges Thema. Mein Selbstbewusstsein leidet. Dazu noch die aufpolierte Bilderflut im Netz, die sich in den letzten Jahren radikalisiert hat. So sehr alle auf Body Positivity machen, hat die Werbe- und Modeindustrie es doch nach Jahren geschafft, auch den Heteromann zu verunsichern. Ihm falsche Idealbilder vorzugaukeln. Ihm zu zeigen, wie inadäquat er ist.

Dazu noch eine gehörige Prise Instagram, und schon blicke ich schlechten Gewissens in den Spiegel und denke mir: Igitt, bin ich schwabbelig. Und dann soll ich ins Fitnesscenter gehen, wo angesichts von übermotiviertem Grunzen dieses peinliche Männlichkeitsbild von Muskelpriorität nur noch mehr Scham verursacht? Nein danke.

Ich erkenne jedoch recht bald: Den Medikamenten die Schuld zu geben, ist tatsächlich nur eine Ausrede. Das Alter hat zugeschlagen. Der Stoffwechsel will sich nicht mehr so richtig ankurbeln lassen. Die Ausrede sitzt nicht. Gleich wird wieder eine Sport-App runtergeladen und dem Bier abgeschworen. Und was früher immer so einfach war, ist plötzlich eine Übung in Disziplin geworden.

An einem Sonntagnachmittag gehen meine beste Freundin und ich spazieren. «Ich werde wohl nie wieder so schlank sein, wie ich mit dreissig war», jammere ich. «Wird da jemand sensibel?», sagt sie, «ich hatte früher die allerschönsten Titten. Aber jetzt nach meinem Kind sind sie halt, na ja, so wie sie sind. Das ist halt so. Scheiss Alter.» Und wir lachen.

Meine Gedanken kreisen oft. Mann muss stark sein. Mann muss schwach sein. Mann muss fit sein. Mann darf nicht zu fit sein, aber auch nicht zu unfit. Mann darf nicht weinen, aber Mann muss sensibel sein. Mann soll Gentleman sein, aber nicht allzu sehr. Mann muss Geld haben, aber Geld darf ihm nicht wichtig sein. Et cetera. Et cetera.
Ein Mann zu sein ist ja eigentlich ziemlich banal und einfach.

Männlichkeit hingegen ist ein kompliziertes Konstrukt, das von unfassbar vielen Faktoren beeinflusst wird. Das an Jahrhunderte von Privilegien und Erwartungen gekoppelt ist. Das in stetiger Veränderung ist und pausenlos angepasst werden muss.

Muss es mir jetzt egal sein? Oder darf es das nicht?

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