Die Schweizer Test- und Awareness-Kampagnen von Dr. Gay sorgen europaweit immer wieder für Aufsehen. Wie reden wir über HIV-Prävention und adressieren gleichzeitig die vielseitigen Anliegen der Schlüsselgruppen?

Florian Vock, stv. Geschäftsleiter der Aids-Hilfe Schweiz

Seit den ersten Präventionskampagnen in der Schweiz in den Neunzigerjahren haben schwule Männer eine Botschaft verbreitet, die dem Klima der Angst entgegengesetzt war: keine moralistische Schuldzuweisung, sondern Autonomie, Sorgfalt und eine stolze Sexualität.

Die jüngsten Ausgaben der Dr. Gay-Kampagnen stehen in dieser langen Tradition. Nach einem Anstieg der Zahl der MSM, welche zu Beginn der 2000er Jahre feststellten, dass sie mit HIV leben, führte die Aids-Hilfe Schweiz 2012 die ersten Kampagnen für HIV-Tests durch.

Was uns immer ein wenig frustriert, ist, dass wir wissen, dass die Umsetzung wirksamer Strategien zur Verhinderung der HIV-Übertragung eng mit der allgemeinen Gesundheit von Individuen und Gemeinschaften verknüpft ist. Wir wissen auch, dass die Exposition gegenüber HIV eng mit psychosozialen Herausforderungen verbunden ist und dass MSM besonders gefährdet sind. Die Akzeptanz von Schutzstrategien und regelmässigen Tests hängt ebenfalls von diesen Faktoren abhängt.

Die grosse Herausforderung: Fast nichts eignet sich für eine Kampagne, vor allem nicht die Komplexität der psychischen Gesundheit. Kampagnen sind teuer und schwer durchzuführen.

„Benutze ein Kondom!“ ist eine einfache und wirksame Kampagnenbotschaft. Aber wie soll man die psychische Gesundheit adressieren?

Wir haben unsere Ansprüche erheblich eingeschränkt und uns auf reale Situationen konzentriert. Unsere Kampagnen zielen nicht auf die Ausbildung von Fachleuten ab. Die Öffentlichkeit, die wir erreichen wollen, kann nicht alles über psychische Gesundheit durch eine Kampagne lernen. Dafür gibt es effektivere Möglichkeiten. Niemand hat die Zeit, sich mit komplexen Themen zu beschäftigen.

Aber die Menschen vertrauen uns und sind bereit, konkrete Ratschläge für reale Situationen zu befolgen. Wir bieten das an, was auch umsetzbar ist.

Was wir dabei nie vergessen dürfen: Die Menschen, die wir erreichen wollen, sind so divers, dass es unmöglich ist, sie alle gleichzeitig mit der gleichen Botschaft zu erreichen.Wir haben drei Gruppen identifiziert, die wir mit unseren Kampagnen erreichen können – das sind natürlich Archetypen, da alle Menschen irgendwo dazwischen liegen. Und daneben gibt es noch zahlreiche Menschen, die unmöglich mit klassischen Kommunikationskampagnen erreicht werden können, z. B. nicht-identitäre MSM.

  1. Schwule Männer, für die Sexualität ein zentraler Teil ihres Lebens ist. Sie reden gerne über Sex, haben häufig Sex und sind empfänglich für erotische oder sexualisierte Inhalte. – Sie wollen individuelle Lösungen.
  2. Queere Menschen, die ein generelles Interesse an allen existenziellen Fragen haben. Sie haben einen moralischen Zugang zu Themen und sind wenig empfänglich für Nacktheit oder Verweise auf die schwule Sexualkultur. – Sie wollen sexuelle Gesundheit nicht mehr nur durch das Prisma von HIV betrachten, sondern eine breitere Palette von Themen berücksichtigen, die nicht nur schwule Männer betreffen.
  3. Menschen, die sich für die Community engagieren. Sie sehen HIV als eine gemeinsame Herausforderung an. – Sie wollen Kampagnen, die auch die Solidarität betonen. (Ausserdem lesen sie auch mehr als drei Schlagworte aus eigenem Antrieb.)

Es ist unmöglich, alle drei Gruppen in einer einzigen Kampagne anzusprechen. Andernfalls würde die Kampagne ihre Wirkung verlieren. Eine Kampagne muss mutig sein und Grenzen überschreiten. Man muss immer einen Schritt weiter gehen.

Für Kampagnen ist entscheidend: Es geht nicht um dich, es geht nicht darum, die Menschen zu erziehen oder zu belehren. Es geht auch nicht darum, was Fachpersonen denken, wie die perfekte Welt aussehen würde. Wir brauchen Kampagnen mit sehr konkreten Zielen, die sich an reale Personen richten und mit realistischen Handlungsaufforderungen verbunden sind.

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