Eine echte Wahl haben
Bei der Vorstellung des „Manifest Choice“ wurde zwischen zwei Begriffen unterschieden, die im Zusammenhang mit HIV wie auch in anderen Bereichen manchmal unterschiedslos verwendet werden.
Florent Jouinot, Aids-Hilfe Schweiz
Die „Optionen“ sind die Gesamtheit der existierenden und verfügbaren Methoden, insbesondere der biomedizinischen Methoden, aber auch die verschiedenen Möglichkeiten des Zugangs zu ihnen sowie die Bedingungen, unter denen dies möglich ist. Die verschiedenen Methoden müssen natürlich so sicher und wirksam wie möglich sein, aber auch so zahlreich und vielfältig wie möglich. Kombinationen mit anderen Instrumenten sollten gefördert werden (z. B. HIV-PrEP und Verhütung oder Prävention von bakteriellen STI). Die Hindernisse für den Zugang sollten so gering wie möglich gehalten werden (Entfernung, Dauer, Fristen, Kosten...).
Der Begriff „Wahl“ bezieht sich auf die Fähigkeit eines Individuums, unter den möglichen Optionen diejenige oder diejenigen auswählen zu können, die ihm am besten zusagen. Dies bedeutet, dass Regierungen, Gesetzgeber und die für die Umsetzung zuständigen Anbieter sicherstellen müssen, dass möglichst viele Optionen zur Verfügung stehen und für möglichst viele Menschen, die davon profitieren könnten, auch tatsächlich zugänglich sind.
Vervielfachung der medikamentösen Optionen
Heutzutage gibt es für Menschen, die nicht mit HIV leben, verschiedene Möglichkeiten, antiretrovirale Medikamente zum Schutz vor dem Virus einzusetzen. Tabletten, die oral eingenommen werden (z. B. TDF/FTC oder TAF/FTC), entweder kontinuierlich (das ganze Jahr über oder in bestimmten Zeitabschnitten) oder intermittierend (2+1+1). Mehrere dieser Optionen sind bereits in immer mehr Ländern verfügbar, andere werden in Kürze verfügbar sein und wieder andere befinden sich in der Entwicklungs- oder Evaluierungsphase.
Während es von den ersten HIV-PrEP-Versuchen bis zur Bereitstellung für die Bevölkerung weltweit viele Jahre dauerte, wurden die Prozesse stark beschleunigt, sodass neue Instrumente schneller hinzugefügt werden können, sobald ihre Sicherheit und Wirksamkeit wissenschaftlich bestätigt wurden.
So dürften die Ergebnisse des Purpose-Programms zur Wirksamkeit von Lenacapavir (LEN) in der HIV-PrEP (1 subkutane Injektion alle 6 Monate) ab 2025 zu den ersten Marktzulassungen und zur Aufnahme in die internationalen und nationalen Leitlinien führen. Nach den Ergebnissen für cisgeschlechtliche Frauen (Purpose 1 - 100% Wirksamkeit), die im Juli auf der wissenschaftlichen Konferenz der IAS in München vorgestellt wurden, wurden die Ergebnisse für cisgeschlechtliche Männer, die Sex mit Männern haben, sowie für trans- und nicht-binäre Menschen (Purpose 2) auf der HIV4P-Konferenz in Lima bekannt gegeben, und sie sind beeindruckend: 96% Reduktion der Anzahl der Personen, die herausgefunden haben, dass sie mit HIV leben, im Vergleich zur erwarteten Inzidenz ohne Intervention, und 89% Reduktion im Vergleich zur Gruppe, die eine orale HIV-PrEP einnimmt. Zur Erinnerung: Die Wirksamkeit der oralen HIV-PrEP lag in den verschiedenen Studien bei etwa 85-90%.
Die höhere Wirksamkeit scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass es für die Betroffenen einfacher ist, sich alle 2-6 Monate eine Spritze zu geben, als täglich Tabletten in den Tagen vor und nach dem Geschlechtsverkehr einzunehmen. Abgesehen davon, dass die Einnahme vergessen werden kann, ist es auch nicht mehr notwendig, das Medikament zu Hause oder sogar bei sich zu haben, insbesondere für Menschen, die ihre Sexualität nicht offen ausleben können.
In den Studien zur Einführung von Cabotegravir (CAB-LAI) wurde die HIV-PrEP, die alle zwei Monate intramuskulär injiziert wird, weitgehend bevorzugt, insbesondere bei Gruppen, die HIV besonders ausgesetzt sind (Intersektionalität), wie finanziell benachteiligte, junge, transsexuelle, rassistische, in der Sexarbeit tätige Personen und/oder Personen, die psychoaktive Substanzen auch im sexuellen Kontext konsumieren. Die HIV-PrEP mit langer Wirkungsdauer hat nicht nur die Rate der HIV-PrEP-Initiierungen deutlich erhöht, sondern auch dazu beigetragen, dass mehr Menschen und länger in der HIV-PrEP verbleiben, insbesondere in diesen Gruppen. Bei cisgeschlechtlichen Frauen scheint die Kombination in einem einzigen Hilfsmittel (z. B. Vaginalring, Implantat) ein weiterer wichtiger Hebel zu sein, um die Rate der HIV-PrEP-Initiierung und vor allem der Fortführung der HIV-PrEP zu erhöhen.
Angebote diversifizieren und zugänglich machen
Neben den Produktoptionen spielen auch andere Parameter eine Rolle bei der Aufnahme und Fortsetzung der HIV-PrEP.
Dazu gehören beispielsweise die Art und der Standort der PrEP-Zentren. In mehreren Ländern wurde die HIV-PrEP, oft aus praktischen Gründen, in das Angebot der öffentlichen HIV-Krankenhäuser aufgenommen. Angehörige der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen möchten jedoch aus (oft berechtigter) Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung durch das Personal dieser Einrichtungen, aber auch durch ihr Umfeld, nicht in eine staatliche Abteilung und/oder ein HIV-Zentrum gehen. So möchten die Betroffenen ihre HIV-PrEP in den Zentren in ihrer Nähe beginnen und überwachen können, vorzugsweise in auf sexuelle Gesundheit spezialisierten Einrichtungen, bei denen sie bereits in Behandlung sind oder die sie aufsuchen würden, wenn es um Fragen der Verhütung und Familienplanung oder um Vorsorgeuntersuchungen geht. Trans-Personen bevorzugen Einrichtungen, in denen sie wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit betreut werden, und Menschen, die Drogen konsumieren, wenden sich lieber an Einrichtungen, die sich mit der Reduzierung von Risiken im Zusammenhang mit Substanzen beschäftigen. Andere wollen oder können oft nicht in ein Gesundheitszentrum gehen und ziehen es vor, dass die HIV-PrEP im Rahmen von mobilen (z. B. Gesundheitsbus) und/oder gemeindenahen Aktionen (z. B. mobile Teams, die in sozialen Räumen tätig sind) angeboten wird.
Es wäre wünschenswert, dass alle Arten von Zentren alle verfügbaren Optionen anbieten. Dies wirft dann die Frage nach den Bedingungen auf, die an den Zugang gestellt werden. Im Rahmen der Studien waren eine Reihe von Besuchen und Labordaten erforderlich, um die Sicherheit und Wirksamkeit einer neuen Option beurteilen zu können. Wenn diese einmal festgelegt sind, ist es dann immer noch notwendig, die gleiche Häufigkeit der Besuche und die gleiche Analyseliste beizubehalten? Eine der grössten Sorgen ist, dass eine Person, die mit HIV lebt, eine PrEP einleitet oder fortsetzt und das Virus eine Resistenz gegen das/die verwendete(n) Molekül(e) entwickelt. Um die Einführung der HIV-PrEP zu ermöglichen, wurden verschiedene Strategien erforscht, insbesondere die Entmedizinisierung. In einigen Kontexten wurde die HIV-PrEP bereits beim ersten Besuch nach der Durchführung eines Schnelltests, einschliesslich eines Peer- oder Selbsttests, abgegeben (oral) oder verabreicht (injiziert). Die Zahl der versäumten Infektionen vor Beginn der PrEP ist äusserst gering. Ausserdem konnten Personen, die vor Beginn der PrEP herausfanden, dass sie bereits mit HIV lebten, eine therapeutische Behandlung einnehmen, durch die das Virus im Blut schnell nicht mehr nachweisbar war. Dies führt dazu, dass die Protokolle hinterfragt werden müssen, um ein Gleichgewicht zwischen Vorteilen (Zugang zur HIV-PrEP für Personen, die diese sonst nicht in Anspruch nehmen würden) und den tatsächlichen Risiken (Verzögerung bei der Entdeckung, dass eine Person mit HIV lebt) zu finden.
Die Reduzierung der medizinischen Anforderungen für den Zugang zur HIV-PrEP ermöglicht zudem eine Diversifizierung der Abgabemodalitäten, insbesondere durch die Zusammenarbeit mit Apotheken, Gemeinschaftseinrichtungen oder anderen Partnern, die den Zielgruppen geografisch und kulturell nahe stehen, sowie durch Automaten, die in öffentlichen Bereichen (z. B. Bahnhöfen oder Busbahnhöfen) oder in der Gemeinschaft aufgestellt werden.
Im weiteren Sinne haben sich die Implementierungsstudien mit den Präferenzen der zu erreichenden Personen in Bezug auf Optionen und Bedingungen befasst, die von Region zu Region und von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe sehr unterschiedlich sind. Solche Studien sind daher weiterhin notwendig, um sicherzustellen, dass die Optionen und Angebote (immer) angemessen sind. Sie sind heute jedoch aufgefordert, auch die Faktoren zu erforschen, die die tatsächliche Zugänglichkeit beeinflussen, und nach strukturelleren Herausforderungen zu fragen.