Welt-Aids-Konferenz 2022 - Die Kriminalisierung von HIV
In mehreren Veranstaltungen der Welt-Aids-Konferenz 2022 wurde das Thema Recht und Diskriminierung aufgegriffen: Ausschlüsse aus Versicherungen, Benachteiligungen am Arbeitsplatz, Datenschutzverletzungen oder Ungleichbehandlungen im medizinischen Umfeld. Klar im Fokus stand die Kriminalisierung von HIV.
Dr. iur. Caroline Suter
HIV-Kriminalisierung beschreibt die ungerechte Anwendung des Strafrechts auf Menschen mit HIV infolge ihrer HIV-Infektion. Dabei gelangen einerseits HIV-spezifische Strafgesetze, andererseits Bestimmungen aus allgemeinen Strafgesetzen zur Anwendung. Menschen mit HIV werden strafrechtlich verfolgt, weil sie ihren HIV-Status verschwiegen, eine Person vermeintlich dem Risiko einer HIV-Exposition ausgesetzt oder HIV unbeabsichtigt übertragen haben.
Weltweites Phänomen
Gemäss UNAIDS stellen 134 Länder das Verschweigen des HIV-Status, die Exposition gegenüber HIV oder die HIV-Übertragung unter Strafe. Das HIV Justice Network (www.hivjus-tice.net), eine Community-basierte NGO, die eine globale Datenbank mit Gesetzen und Rechtsprechungen zur HIV-Kriminalisierung führt, berichtete an der Konferenz über die Entwicklungen in den einzelnen Regionen. Die USA waren das erste Land, das ab 1987 HIV-spezifische Strafgesetze einführte. Über die Hälfte der Bundesstaaten haben heute noch solche HIV-Gesetze, die teilweise lange Haftstrafen vorsehen. Ein eindrückliches Beispiel hierfür lieferte Kerry Thomas aus Idaho, der in einer Liveschaltung einen Workshop aus dem Gefängnis moderierte. Thomas wurde 2009 zu einer 30-jährigen Haft verurteilt, weil er zweimal Sex hatte, ohne seinen Partner über seine HIV-Infektion zu informieren. Die Tatsache, dass Thomas Kondome verwendete und eine nicht nachweisbare Viruslast hatte, für den Partner also kein Ansteckungsrisiko bestand, interessierte das Gericht nicht.
Rund 30 Subsahara-Staaten kennen Gesetze zur HIV-Kriminalisierung. Frauen werden eher strafrechtlich verfolgt als Männer, da sie durch HIV-Tests in der Schwangerschaft in der Regel die Ersten in der Beziehung sind, die von ihrem HIV-Status erfahren. In einigen Fällen wurden Frauen auch verurteilt, weil sie ihre Kinder beim Stillen einem potenziellen Übertragungsrisiko ausgesetzt haben. Es gibt aber auch erfreuliche Entwicklungen. So haben Kongo 2018 und Zimbabwe 2022 ihre HIV-spezifischen Gesetze vollständig abgeschafft. Auch in Burkina Faso und Kenia sind entsprechende Bestrebungen im Gange.
Osteuropa und Zentralasien weisen nach Subsahara-Afrika die zweithöchste Zahl (16) spezifischer HIV-Strafgesetze auf. In Russland und Belarus ist die Zahl der Verurteilungen enorm hoch. Jede Handlung, bei der eine Person dem vermeintlichen Risiko einer Infektion ausgesetzt wird, ist in Russland strafbar. Die Offenlegung des HIV-Status ist obligatorisch und selbst ohne HIV-Diagnose kann man strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, etwa bei injizierendem Drogenkonsum.
Im Mittleren Osten und in Nordafrika haben sieben Staaten ein HIV-spezifisches Strafgesetz. Jemen setzte 2021 ein neues Gesetz in Kraft, das nicht nur eine mutmassliche HIV-Übertragung ohne Vorsatz unter Strafe stellt, sondern auch obligatorische HIV-Testungen von Migrant:innen und Flüchtlingen vorsieht. Drei Staaten haben in der Vergangenheit auch allgemeine Strafbestimmungen angewandt, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate. Dort müssen Ausländer:innen einmal pro Jahr zum HIV-Test und werden bei einem positiven Resultat des Landes verwiesen.
In Lateinamerika und der Karibik kennen 15 Länder ein HIV-spezifisches Strafgesetz, darunter El Salvador, das 2016 ein entsprechendes Gesetz eingeführt hat. Auch in Chile und Jamaika sollen solche Gesetze verabschiedet werden. In Kolumbien erklärte das Verfassungsgericht ein 2019 in Kraft getretenes HIV-spezifisches Strafgesetz für verfassungswidrig. Fünf Staaten wenden generelle Strafgesetze an, darunter Mexiko, das am meisten Verurteilungen zu verzeichnen hat.
Im asiatisch-pazifischen Raum haben elf Länder HIV-spezifische Strafgesetze, darunter Pakistan, Vietnam und Nepal, das 2018 ein solches Gesetz erlassen hat. In China besagen die nationalen Vorschriften, dass eine Person, die mit HIV lebt, potenzielle Sexualpartner:innen über ihren HIV-Status informieren und die notwendigen Vorsichtsmassnahmen ergreifen muss, um eine HIV-Übertragung zu verhindern. Worin diese Massnahmen bestehen, wird nicht definiert. Elf Staaten wenden generelle Gesetze zur HIV-Kriminalisierung an.
In West- und Zentraleuropa haben nur wenige
Länder HIV-spezifische Gesetze eingeführt. Dazu gehörte Dänemark, das das 2001 in Kraft getretene Gesetz jedoch zehn Jahre später wieder abschaffte. Schweden hat 2020 die Rechtspflicht, den HIV-Status offenzulegen, aufgehoben. In die entgegengesetzte Richtung geht Polen: Unter dem Deckmantel der COVID-19-Prävention änderte das Land 2020 die HIV-spezifischen Strafbestimmungen und erhöhte die Haftstrafe für HIV-Exposition von maximal drei auf acht Jahre. Auch Rumänien und Lettland kennen HIV-spezifische Strafgesetze.
21 Länder West- und Zentraleuropas wenden generelle Strafgesetze auf Fälle der HIV-Kriminalisierung an, darunter auch die Schweiz (siehe unten). Viele Rechtsprechungen dieser Staaten anerkennen die Straffreiheit bei nicht nachweisbarer Viruslast.
Blutspende als Straftat
Unter dem Titel «Bad Blood» machte Edwin Bernard, Gründer und Direktor des HIV Justice Networks, auf einen besonderen Aspekt der HIV-Kriminalisierung aufmerksam, nämlich die Blutspende. In mindestens 23 Ländern gibt es Gesetze, die Blutspenden von Menschen mit HIV unter Strafe stellen, obwohl in vielen Ländern das Blutspendeverbot für MSM aufgrund wissenschaftlicher Fortschritte beim HIV-Screening aufgehoben wurde. Eine 2021 vom HIV Justice Network durchgeführte Recherche zeigte, dass viele Strafverfolgungen Personen betrafen, die gar nicht wussten, dass sie HIV-positiv sind. Ihnen wurde von den Gerichten vorgeworfen, sie hätten wissen können, dass sie HIV-positiv sind, weil sie z. B. schwul sind (mehrere Verurteilungen in Singapur). Dies, obwohl das Risiko einer Übertragung bei Blutspenden aufgrund der Fortschritte bei den Blutuntersuchungen heutzutage äusserst gering ist.
Verheerende Auswirkungen
Die Kriminalisierung von HIV verstösst gegen die Menschenrechte, insbesondere die Rechte auf Gesundheit, Privatsphäre und Gleichheit, und behindert die HIV-Prävention in erheblichem Masse. Dazu kommt, dass die Berichterstattung der Medien über solche Strafprozesse oft tendenziös ist und Menschen mit HIV als Kriminelle darstellt und herabwürdigt. Dies wiederum hat einen negativen Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit HIV, indem stigmatisierende Fehlinformationen und Unwissenheit über HIV und dessen Übertragungswege aufrechterhalten und weitergetragen werden.
Die strafrechtliche Verfolgung betrifft zudem in überproportionalem Ausmass wirtschaftlich oder sozial vulnerable Menschen und erhöht das Gewaltrisiko gegen diese Personen, insbesondere gegen Frauen, die aufgrund pränataler HIV-Tests meist als Erste in der Beziehung die HIV-Diagnose erhalten. Darüber berichtete Svitlana Moroz, Mitbegründerin der Union of Women of Ukraine affected by HIV, in ihrem Referat «The experience of populations affected by unjust laws». Dass es für Frauen infolge von Angst vor Gewalt oft schwierig ist, Safer Sex auszuhandeln oder ihren Status offenzulegen, wird von den Gesetzen und Strafverfolgungsbehörden in keiner Weise berücksichtigt. Gemäss UNAIDS haben HIV-positive Frauen ein zehnmal höheres Risiko, Gewalt und Missbrauch zu erleben, als HIV-negative Frauen.
Die Kriminalisierung hat auch negative Auswirkungen auf den Persönlichkeitsschutz. Mehrere Staaten sehen die Pflicht vor, Sex-partner:innen über den HIV-Status zu informieren, selbst wenn Kondome benutzt werden oder eine nicht nachweisbare Viruslast besteht. Durch diese Offenbarungspflicht gelangt eine Vielzahl von Personen, zu denen oft kein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, zu dieser sensiblen Information, und es besteht die Gefahr, dass diese Information an Dritte weitergetragen wird, was wiederum ein beträchtliches Diskriminierungs- und Stigmatisierungsrisiko nach sich zieht.
Bekämpfungsstrategien
In ihrer globalen Aids-Strategie 2021–2026 nennt die UNAIDS die HIV-Kriminalisierung als ein Hindernis für die Beendigung von HIV bis 2030, daher wurden neue ambitionierte globale Ziele festgelegt: Bis 2025 sollen weniger als 10 Prozent der Länder das Verschweigen, die Exposition oder die Übertragung von HIV strafrechtlich ahnden.
Das Global Network of People Living with HIV (GNP+) lancierte an der Konferenz die Kampagne «Not a Criminal». Diese Kampagne ruft die Staaten dazu auf, die HIV-Exposition, die HIV-Übertragung, das Verschweigen des HIV-Status, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Sexarbeit und den Gebrauch und Besitz von Drogen für den persönlichen Gebrauch zu entkriminalisieren und die Schaffung unabhängiger Menschenrechtsinstitutionen zu fördern.
Das Gastgeberland Kanada gehört zu den westlichen Ländern mit den meisten HIV-bezogenen Strafverfahren. Das Gesetz verlangt, dass eine HIV-positive Person die Partnerin oder den Partner vor dem Sex stets über ihren HIV-Status informiert, ausser sie benutzt ein Kondom und hat eine tiefe Viruslast (unter 1500). Wird die HIV-Infektion verschwiegen, gilt dies als schwere sexuelle Nötigung, was zu lebenslanger Haft und/oder lebenslänglicher Brandmarkung als Sexualstraftäter:in führen kann. Die kanadische Koalition zur Reform der HIV-Kriminalisierung (CCRHC) nutzte das Rampenlicht der Konferenz, um eine Konsenserklärung zur Gesetzesrevision zu veröffentlichen. Darin wird die kanadische Regierung aufgefordert, die Kriminalisierung von HIV auf die sehr seltenen Fälle einer vorsätzlichen Übertragung zu beschränken.
Und die Schweiz?
Bis vor wenigen Jahren gehörte die Schweiz zu den Ländern mit den meisten Verurteilungen in Zusammenhang mit der HIV-Kriminalisierung. Seit Anerkennung der Nichtinfektiosität unter erfolgreicher Therapie durch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte (erstmals 2009 in Genf) und der Revision des Epidemiengesetzes 2016 werden heutzutage kaum noch Menschen mit HIV verurteilt. Die HIV-Kriminalisierung ist hierzulande aber noch nicht ganz vom Tisch: Wer eine nachweisbare Viruslast hat und seine Sexualpartnerin, seinen Sexualpartner vor dem kondomlosen Geschlechtsverkehr nicht über die HIV-Infektion informiert, macht sich strafbar, auch wenn es zu keiner HIV-Übertragung kommt. Dabei genügt Eventualvorsatz, also billigendes Inkaufnehmen.