Chemkon 2025: Take Home Messages

Vom 28.-29. März 2025 fand die deutschsprachige Konferenz rund um Chemsex und sexualisierten Substanzgebrauch statt. Die interdisziplinäre Konferenz bot vielfältige Einblicke in ein komplexes Phänomen.

Zusammengetragen von Florian Vock (Aids-Hilfe Schweiz) und Adrian Knecht (Aids-Hilfe St. Gallen-Appenzell)

Phänomen Chemsex (Heide Mutter)

Chemsex hat sich durch die einfachere Verfügbarkeit von synthetischen Substanzen und der leichteren Suche nach Sexualpartnern durch Dating-Apps zu einem breiten Phänomen entwickelt. Dabei müssen wir differenziert, sensibel und engagiert arbeiten:

  • Wissen, nicht glauben
  • Zuhören, nicht bewerten
  • Befähigen, nicht belehren

Chemsex ist die Gleichzeitigkeit von "Sex auf Drogen" und "Drogen auf Sex".

Rausch und Sexualität (Dr. Dr. Stefan Nagel)

Zum «sozial üblichen» Sex gehört Alkohol dazu (z.B. der Prosecco davor). Die Verbindung von Sex und Substanzen ist extrem eng konnotiert und kulturell etabliert. Chemsex ist eine Spielart davon. Psychoanalytisch betrachtet kämpft die Lust gegen das Weh (den tiefen Schmerz des Lebens in dieser Welt) an: Wir erleben Werteverlust und Sinnverlust, Orientierungs- und Limitierungsverlust, normative Fehlorientierung (eigene Wahrheit). Die sexuelle Lust sucht dabei die Ewigkeit und suspendiert das Lebensprinzip: Lust dominiert das Überleben. Eskatische Ausnahmezustände sind hochambivalent: Zum einen bedrohen sie Normen gesellschaftlicher Ordnung, zum anderen stabilisieren sie gerade diese Normen dank einer zeitweiligen Entlastung (Karnevalisierung der Gesellschaft). Auch Sex ist gesellschaftlich reguliert und gleichzeitig ein Ausfluchtsort: "Discomfort can be a source of sexual pleasure."

Das Problem beim sexualisierten Substanzkonsum: Befriedigende Lust ist Mangelware, das frustriert. Also muss Ersatz her: Substanzen dienen der kompensatorischen Lust. Die Droge verändert das Erleben der Sexualität vielfältig:

  • Substanzen realisieren gewünschte Zustände wie Wachheit, Hemmungslosigkeit und Offenheit und stärken das Körpererleben und die Kommunikationsbereitschaft.
  • Dank Mischkonsum (z. B. mit Viagra oder Alkohol) können unerwünschte Nebenwirkungen kompensiert werden.
  • Substanzen regeln den Körperrhythmus nach Belieben, eine Tag-Nacht-Umkehr wird möglich, Scham, Spannungen und Ängste können abgebaut werden.
  • Substanzen ermöglichen es, sexuelle Wünsche zu erfüllen.

Das Problem: Substanzen sind rein funktional; sie reihen sich ein in eine Ideologie der Nützlichkeit und Zweckmässigkeit. Es kommt zum Verlust sinnlicher Bezüge. Für den Menschen ist das fatal.

Forschungsstand zu Chemsex (Prof. Dr. Daniel Deimel)

Chemsex ist ein schwules, urbanes Kulturphänomen, nicht nur ein Verhalten oder eine Konsumform. Chemsex ist eine spezifische Form sexualisierten Substanzkonsums. Polysubstanzkonsum und Mischkonsum sind dabei die Regel, nicht die Ausnahme: Sowohl gleichzeitig wie seriell werden verschiedene Substanzen gebraucht. Umso wichtiger ist es, sich bei Prävention und Behandlung nicht auf die Substanz zu fokussieren, sondern auf den sexuellen Kontext des Konsums insgesamt. Wichtigste Konsummotive sind "Probleme vergessen"; "Partys feiern, entspannen, Spass haben" oder "sexuelle Leistungs- und Erlebnissteigerung".

Allzu rasch wird Chemsex aus Ausdruck von Minderheitenstress und anderen psychischen Belastungen geschlossen. Das trifft nicht zwangsläufig zu, das Bild zur psychischen Gesundheit ist nicht eindeutig. Insgesamt sind schwule MSM stark belastet. Aber so haben schwule Chemsex-User sogar tiefere Werte, wenn es um internalisierter Homonegativität geht, als nicht-konsumierende Schwule. Denn Minderheitenstress basiert nicht nur auf der realen, sondern auch erwarteten Ausgrenzung. Im Chemsex-Kontext als Teilphänomen schwuler Subkultur gibt es starke Gefühle der Zugehörigkeit, was ein Schutzfaktor vor Minderheitenstress ist (sogenannt intermedierende Faktoren). Weniger Homophobie ist also kein Automatismus zu weniger Substanzgebrauch, wenn gleich es Zusammenhänge gibt.

Chemsex bringt Probleme körperlicher, psychischer und sozialer Art nach sich. In Chemsex Setting gibt es mehr nicht-konsensuelle Handlungen und Gewalterfahrungen. Chemsex User wollen mehrheitlich ihr Verhalten nicht verändern. Abstinenzorientierung ist nicht zielführend. Konsumreduktion und Schadensminderung sind angesagt!

Sorgenkind GHB (Antonia Bendau, Twyla Michnevich)

GHB (und die Vorläuferprodukte GBL und BDO) ist neben Monkeydust (synthethische Kathinone) eines der Sorgenkinder für die Prävention. Es wird oral eingenommen (verdünnt getrunken) und fühlt sich weniger invasiv an. GHB hat eine extrem befriedigende Wirkung zwischen sedierend und stimulierend und kann damit viele Bedürfnisse bei sexualisiertem Substanzgebrauch erfüllen.  Die Konsummotivation ist denn auch eine Intensivierung der Gefühle. 

Manchmal wird GHB auch eingesetzt, um nach einem Partywochenende und dem Konsum von Amphetaminen einschlafen zu können. Überhaupt übernimmt GHB biologisch eine ähnliche Funktion wie Alkohol oder Benzodiazepine (Blockade der Neurotransmitter). Deshalb ist der Mischkonsum von GHB mit Alkohol und Benzodiazepine, aber auch Allergiemedikamenten, lebensbedrohlich, da es zu Ohnmacht und Atemstillstand kommen kann.

Es zeigt sich aber auch in Studien, dass Konsument:innen eine sehr hohe Kompetenz aufweisen. 95% nutzen Safer Use-Techniken wie Dosierhilfen oder Timer. Trotzdem hatten über 50% der regelmässig Konsumierenden schon eine Bewusstlosigkeit infolge Überdosierung oder Mischkonsum erlebt. Das zeigt, wie anspruchsvoll GHB im Konsum ist. Dosierhilfen oder Timer geben nämlich auch eine falsche Sicherheit: Der Körper ist keine Maschine und die gleiche Dosis kann an zwei verschiedenen Tagen sehr unterschiedlich wirken. Auch steigert wiederholter Konsum die Wirkung.

GHB ist nicht nur für die Prävention eine Herausforderung, sondern auch für die Therapie. Es entwickelt sich relativ schnell sowohl eine psychische wie eine körperliche Abhängigkeit. Die Entzugserscheinungen sind lebensbedrohlich: 70% entwickeln ein Delir; einen lebensbedrohlichen Ausnahmezustand, mit Symptomen wie epileptische Anfälle, motorische Störungen, Ängste und Panik, komplette Verwirrtheit. Ein Entzug von GHB ist extrem anspruchsvoll und muss stationär unter engmaschiger Betreuung mit einer schrittweisen Dosisreduktion durchgeführt werden.

Für den Präventionsalltag muss die Konsummotivation ins Zentrum gestellt werden. Wir müssen anerkennen, wie eng verknüpft GHB mit Sexualität und sexuellen Räumen ist und das in der Beratung berücksichtigen: Welche alternativen funktionalen Strategien kann ich entwickeln?

Therapie (Anne Iking, Marcus Pfliegensdörfer, Urs Gamsavar, Tim Niebuhr)

Wenn das Konsummotiv für Chemsex Lust- und Leistungssteigerung ist, wirkt dies als ein starker Prädiktor für Rückfälle. Es zeigt sich auch, dass eine HIV-Infektion starken Einfluss auf den Konsum haben kann. Die negativen Gefühle wie Scham oder Angst können mit Chemsex bewältigt werden.

Substanz ist immer der effektivste Weg der Belohnung, während alle Alternativen aufwändiger sind. Eine Konsumveränderung erfordert die Schaffung einer vielfältigeren Identität und neue Gestaltung von Beziehungen. Darin kann Therapie Menschen begleiten. User müssen lernen, Vergnügen und Freizeitgestaltung zu diversifizieren. Zentrale Aufgabe in der Therapie: Wie können die Grundbedürfnisse anders erfüllt werden? Wie kann ich mich anders belohnen? 

Beyond Harm Reduction (Mati Klitgard, Lyu Azbel, Juliana Gleeson, Fouad Marei)

Wie jedes Paradigma führt auch die Idee der Harm Reduction dazu, dass wir gewisse Dinge besser sehen, aber auch andere nicht mehr wahrnehmen können. Umso wichtiger ist es, eigene Massnahmen immer einer sozialtheoretischen Frage zu prüfen: Leistet unsere Arbeit einen Beitrag an das Ideal von Individuen und Kollektiven, das wir haben? Arbeiten müssen iterativ, flexibel und experimentell bleiben.

Die mediale Inszenierung von Chemsex ist schädlich für Betroffene wie die Facharbeit. Sie schürt eine moralische Sexpanik und behauptet, ein Phänomen entdeckt zu haben. Die Fachwelt reagiert darauf mit einem problem-orientierten Ansatz. Dabei geht aber vergessen, dass Chemsex nicht einfach destruktiv ist ("Flirthing With Death"), sondern auch produktiv wirkt ("Life Affirming Practices"). Es werden Antworten geschaffen auf Isolation, Einsamkeit, Leistungsdruck und Privatisierung sozialer Räume mit dieser "schwulen Infrastruktur" Chemsex.

"Ja, ich kann ohne Drogen leben. Aber macht das Spass?" Darauf müssen wir auch gesellschaftliche Antworten finden. Chemsex übertönt die Einsamtkeit mit Spass, aber allzu oft werden Chemsex-Partys noch einsamer verlassen, als man beim Eintreffen war. Die Indifferenz der Menschen zu Passion, Lust, Verbundenheit und Freundschaft, die durch unsere Gesellschaft, aber auch durch Substanzen wie Kokain gefördert wird, macht die Schäden grösser als das, was wir gemeinhin unter Harm Reduchtion verstehen. 

Wir müssen nicht nur die Schäden mindern, sondern auch die Chancen maximieren. Dazu müssen wir Chemsex Re-Kontextualisieren. So sehen wir rasch, wie gross die Herausforderungen in Bezug auf Einsamkeit, Armut und Konsumismus sind und wo unsere Aufgabe (auch) liegt.

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