Das Virus sind die anderen : Aids-Hilfe Schweiz

Das Virus sind die anderen

Virologisch betrachtet, unterscheiden sich HIV und Sars-CoV-2 stark. Lassen sich trotzdem Parallelen zu den Anfängen der HIV-Epidemie ziehen? Was lehrt uns der gesellschaftliche Umgang mit HIV-Betroffenen über den Umgang mit Covid-19-Patient_innen und Angehörigen von Risikogruppen? Zeigen sich im Sog von Epidemien und Pandemien wiederkehrende Diskriminierungsmuster?

Covid-19 ist omnipräsent und geht nicht zuletzt auch digital viral. So häufen sich aufpoppende Schutzmasken-Ads, ubiquitäre Corona-Liveticker und -Maps, und Verschwörungstheorien fluten die sozialen Medien. Epidemien und Pandemien gab es zwar schon früher, vieles erscheint uns trotzdem als neu und in diesem Ausmass als noch nie dagewesen.

Epidemien als Herausforderung für die öffentliche Gesundheit

Wie die HIV-Epidemie stellt auch die Covid-19-Pandemie eine grosse Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Zu beiden Krankheiten existierte aufgrund ihrer Neuartigkeit bei ihrem ersten Auftreten kaum Fachwissen, und somit standen auch keine oder kaum wirksame Arzneimittel zur Behandlung zur Verfügung. Während man optimistisch ist, gegen Sars-CoV-2 in absehbarer Zeit einen Impfstoff auf den Markt bringen zu können, gibt es gegen HIV bis heute keinen derartigen Schutz. Zu den epidemiologischen Zielen für die öffentliche Gesundheit gehört neben der Verlangsamung der Ansteckungsgeschwindigkeit und einer damit verbundenen Eindämmung der Fallzahlen als elementare Aufgabe die Gewährleistung einer umfassenden medizinischen Versorgung der Erkrankten. Diesbezüglich offenbaren vor allem entsolidarisierte Gesundheitssysteme eklatante Schwächen, da sie nicht allen Erkrankten den gleichen Zugang zur dringend benötigten medizinischen Versorgung ermöglichen.

Lernen aus der HIV-Epidemie

An der Bewältigung der HIV-Epidemie lässt sich erkennen, wie sehr eine wirkungsvolle Informations- und Aufklärungsarbeit zu einer erfolgreichen Präventionsstrategie beiträgt. Derzeit zeigt sich eindrücklich, welch enorme Bedeutung der Aufklärung und damit verbunden der flächendeckenden staatlichen Information zukommt. Wo das nicht passiert, wird die Ausbreitung des Virus begünstigt. Prävention ohne Information ist somit schlichtweg undenkbar. Eine weitere Erkenntnis aus der HIV-Epidemie ist, wie entscheidend der gezielte kommunikative Einbezug von Risikogruppen ist.

Die Wichtigkeit einer kohärenten Informationspolitik zeigt sich auch am Phänomen der Verschwörungstheorien. Wie bei der aktuellen Covid-19-Pandemie entstanden auch zu Beginn der HIV-Epidemie alternative Erklärungsmodelle, Verschwörungstheorien und allerlei Ursprungsnarrative: Das Gerücht etwa, HIV sei mithilfe der damals neuartigen Gentechnik in einem US-Militärlabor gezüchtet worden, ist der derzeit grassierenden Labortheorie nicht unähnlich, wonach das Coronavirus seinen Ursprung in einem Hochsicherheitslabor in Wuhan habe.

Ausserdem zeigt sich eine weitere spannende Parallele und somit ein sich wiederholendes Muster darin, wie die aufkommende Krankheit von gewissen Kreisen – sei es aus Unwissen, politischem Kalkül oder schlichter Ignoranz – bagatellisiert wird. Illustrativ hierfür ist eine Pressekonferenz im Weissen Haus im Jahr 1982: Auf eine Frage zu Aids wurde die Thematik ins Lächerliche gezogen. Knapp vierzig Jahre später hat sich die Geschichte, nicht nur im Weissen Haus, wiederholt: Ebenso wurde Covid-19 zu Beginn verharmlost, und warnende Stimmen und Institutionen wurden belächelt. Kann es Zufall sein, dass momentan vor allem Staaten unter der Covid-19-Pandemie leiden, deren politischen Spitzen die Gefahr und Bedrohung, die vom Virus ausgehen, heruntergespielt haben?

Wie die HIV-Epidemie stellt auch die Covid-19-Pandemie eine grosse Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Zu beiden Krankheiten existierte aufgrund ihrer Neuartigkeit bei ihrem ersten Auftreten kaum Fachwissen, und somit standen auch keine oder kaum wirksame Arzneimittel zur Behandlung zur Verfügung.

Funktion der Medien

Den Medien kommt in der öffentlichen und individuellen Meinungsbildung eine bedeutende Rolle zu. Das Aufkommen der HIV-Epidemie wurde von den damaligen Massenmedien zwar stark rezipiert, konnte aber aufgrund der Nichtexistenz digitaler Medien nicht die mediale Dimension annehmen wie heute die Covid-19-Pandemie. Umso gravierender wirkt es sich daher aus, wenn nebst der objektiven Berichterstattung mit gewissen journalistischen Beiträgen effekthascherisch Ängste geschürt oder beispielsweise Menschen diffamiert werden, die sich nicht an die «Regeln» gehalten haben sollen.

Eigenverantwortung und Solidarität

Eine demokratische Gesellschaft setzt auf Eigenverantwortung. Freiheit geht stets mit grosser Verantwortung einher, nicht nur sich selbst, sondern auch Dritten gegenüber. Epidemien fordern uns zweifelsohne als Individuen wie auch als gesellschaftliches Kollektiv heraus. Gelebter Eigenverantwortung und Solidarität kommt beim Kampf gegen eine Epidemie höchste Bedeutung zu, vor allem in liberalen Demokratien und Gesellschaften – im Gegensatz zu autoritär regierten Ländern, wo risikoarmes Verhalten durch strikte staatliche Massnahmen aufoktroyiert und durch permanente, flächendeckende Überwachung kontrolliert wird.

Testen, testen, testen!

Ob Covid-19 oder HIV: Aus epidemiologischer Sicht wirkt es sich verheerend aus, wenn Infizierte nicht von ihrem Status wissen und so andere gefährden, indem sie das Virus unwissend weiterverbreiten. Um dem entgegenzuwirken, hilft nur eines: testen, testen, testen. Die individuelle Testbereitschaft hängt aber nicht nur von der Verfügbarkeit von Tests und von niederschwelligen Testangeboten ab, sondern auch stark von der Angst vor einer eintretenden Stigmatisierung. Nur wenn die Angst vor einer Stigmatisierung im Fall einer Ansteckung gering ist, steigt die Bereitschaft sich testen zu lassen. Und sich testen zu lassen, ist wiederum ein wesentlicher Aspekt im Kampf gegen eine Infektionskrankheit.

Diskriminierung und Stigmatisierung

Schwingt nicht gegenüber vielen Infizierten ein gewisses Misstrauen, ja gar der unterschwellige Vorwurf mit, sie hätten sich nicht ausreichend geschützt, ihre Eigenverantwortung nicht wahrgenommen? Lässt sich in den kommenden Wochen gar eine Entsolidarisierung gegenüber Corona-Infizierten feststellen? Ein Blick zurück auf die Anfänge der HIV-Epidemie lässt diesbezüglich Unguteserahnen. Dennhinsichtlich Diskriminierung und Stigmatisierung scheint sich die Geschichte insofern zu wiederholen, als zu Beginn sowohl der HIV-Epidemie als auch der Covid-19-Pandemie die Krankheit bestimmten Gruppen zugeschrieben wird. Bevor sich Aids als medizinischer Fachbegriff durchsetzte, hatten Bezeichnungen wie «Grid» (Gay-Related Immune Deficiency) oder «Schwulenpest» kursiert.

Zudem fand und findet eine Reduktion auf den vermeintlichen geografischen Ursprung der Krankheit statt. So wird zurzeit vom «chinesischen Virus» gesprochen, während HIV bei manchen Leuten als «afrikanisches Virus» galt. Infolgedessen findet stets eine Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen statt, die aus ebendiesen Regionen kommen. Ein eindrückliches Zeugnis hierfür liefern die jüngsten Proteste von Asiaten und Asiatinnen auf Social Media, mit denen sie sich dezidiert wehren: «We are not the virus!». Derzeit werden aber auch ältere Menschen als sichtbare Angehörige einer Risikogruppe gelabelt, weshalb ihnen ebenso Diskriminierung und Stigmatisierung drohen. Paternalistisch motivierte behördliche Anordnungen wie etwa Besuchs-, Kontakt- oder Ausgehverbote für Risikogruppen können eine Art der direkten oder indirekten Diskriminierung darstellen, wenn sie insbesondere das individuelle Recht von Menschen auf Selbstbestimmung aufgrund ihrer generellen Zugehörigkeit zu einer gewissen Gruppe, in diesem Falle der über 65-Jahrigen, einschränken.

Die Wichtigkeit einer kohä-renten Informationspolitik zeigt sich auch am Phänomen der Verschwörungstheorien. Wie bei der aktuellen Covid19-Pandemie entstanden auch zu Beginn der HIV-Epidemie alternative Erklärungsmodelle, Verschwörungstheorien und allerlei Ursprungsnarrative.

Juristische Aspekte

Die Covid-19-Erkrankung kann sowohl bei älteren Personen als auch bei Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen (Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Lungenkrankheiten, Krebs oder anderen Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen) einen schweren Verlauf nehmen. Um diese besonders gefährdeten Personen als Arbeitnehmende zu schützen, sieht die Covid-19-Verordnung 2 des Bundesrats Schutzbestimmungen vor wie namentlich die Möglichkeit, die Arbeit von zu Hause aus zu verrichten, und als weitestgehende und letzte Option gar die Freistellung bei voller Lohnzahlung. Wer HIV-positiv ist, unter einer gut funktionierenden antiretroviralen Therapie steht und über eine gute Immunlage (mehr als 200 CD4/mm3) verfügt, gehört nicht zu den besonders gefährdeten Personen im Sinn der Covid-19-Verordnung 2. Daher gelten die gleichen Schutzmassnahmen wie für alle anderen. Wer hingegen einen CD4-Wert unter 200 hat (mit oder ohne HIV-Therapie), weist ein erhöhtes Risiko auf, bei einer Infektion mit dem neuen Coronavirus schwer zu erkranken.

Aufgrund ihrer Fürsorgepflicht sind Arbeitgebende zum Schutz der Gesundheit ihrer Arbeitnehmenden verpflichtet. Datenschutzrechtlich gehören Gesundheitsdaten zu den besonders schützenswerten Personendaten – daraus können sich Konflikte ergeben wie etwa im Anstellungsverfahren angesichts unzulässiger Gesundheitsfragen. Die Gesundheit der Arbeitnehmenden spielt unter anderem auch bei der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses eine grosse Rolle, wenn es um Fragen des zeitlichen und sachlichen Kündigungsschutzes geht. Gerade hinsichtlich des möglichen Risikos einer allfälligen Kündigung ist fraglich, wie gross die Bereitschaft besonders gefährdeter Arbeitnehmenden ist, ihre Arbeitgebenden über ihren gesundheitlichen Status zu informieren. Immerhin kann, je nach den Umständen, aufgrund der arbeitsrechtlichen Sperrfristenregelung eine Kündigung nichtig sein. Ist eine Kündigung hingegen gültig erfolgt, könnte nach Ansicht des Autors dann eine missbräuchliche Kündigung vorliegen, wenn besonders gefährdeten Arbeitnehmenden gekündet wird, weil sie aufgrund ihrer Gefährdung ihnen zustehende Ansprüche geltend machen. Denn dies kann als eine Verletzung der Fürsorgepflicht seitens der Arbeitgebenden gewertet werden.

So hat interessanterweise das Bundesgericht Jahre vor der Covid-19-Pandemie eine nicht oder nicht ausreichend wahrgenommene Fürsorgeplicht gegenüber älteren Arbeitnehmenden als Missbrauchsgrund qualifiziert. Normalerweise verhalten sich die Gerichte zurückhaltend bei der Sanktionsbemessung betreffend eine missbräuchliche Kündigung. Oft werden nicht mehr als zwei Monatslöhne gesprochen, obwohl die Rechtsfolge einer missbräuchlichen Kündigung eine Sanktion in der Höhe von maximal sechs Monatslöhnen mit sich ziehen kann. Damit dem in der Covid-19-Verordnung 2 statuierten Ziel, nämlich dem Schutz besonders gefährdeter Arbeitnehmender gebührend Rechnung getragen wird, ist dezidiert dafür zu plädieren, dies bei der Bemessung der Sanktionshöhe mit einfliessen zu lassen.

Fazit

Die HIV-Epidemie zeigte eindrücklich auf, wie elementar eine kohärente Präventionspolitik und vor allem der Einbezug besonders gefährdeter Gruppen sind und wie gefährlich und nachhaltig schädlich sich Diskriminierung und Stigmatisierung auf Betroffene und deren Umfeld auswirken. Leider begegnen auch heute noch viele HIV-positive Menschen diffusen Ängsten, stossen auf offene Ablehnung und erfahren Benachteiligung im privaten wie beruflichen Alltag. Es liegt an uns als Zivilgesellschaft, dass sich für Covid-19-Erkrankte die Geschichte nicht im Negativen wiederholt. Solange aber unsere Köpfe von der Annahme befallen sind, dass das Virus die anderen seien, sind das Virus nicht die anderen, sondern wir.

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