Jenseits der Hoffnung : Aids-Hilfe Schweiz

Jenseits der Hoffnung

Wie gehe ich als Mensch mit HIV um, wenn ich in den sozialen Medien lesen muss, dass ich verantwortungslos, riskant und eine Schande bin? Christoph Klettermayer über Hasskommentare im Netz.

©David Arnoldi

Christopher Kletter­mayer

Ich bin Autor, Fotograf und Künstler. Vor meiner HIV-Diagnose 2014 arbeitete ich als Fotograf in den Bereichen Reportage und Mode. Nach meiner Diagnose rückten für mich das Thema HIV und die gesellschaftlichen und soziologischen Aspekte des Virus in den Vordergrund. Bis vor Kurzem arbeitete ich unter dem Pseudonym Philipp Spiegel. Heute versuche ich meine künstlerischen Tätigkeiten mit dem Schreiben über mein Leben mit HIV und über Sexualität und Männlichkeitskonstrukte zu verbinden.

www.philipp-spiegel.com
www.cklettermayer.com

Christopher Klettermayer | Dezember 2021

Ob die sozialen Medien mit ihren Kommentarfunktionen die Welt demokratischer gemacht oder eher den niederen Gefühlen Tür und Tor geöffnet haben, darüber scheiden sich die Geis-
ter. Klar ist aber, dass es noch nie so einfach war, in der digitalen Öffentlichkeit seine Meinung kundzutun, auch mit gehässigen, verletzenden und oft auch mit bewusst falschen Informationen. Da werden auch Menschen mit HIV nicht verschont.

Ich weiss, ich soll es nicht machen. Ich weiss, es tut mir nicht gut, dass ich mich dann wieder aufregen muss, dass ich mich ärgern werde. Aber irgendwie muss ich es machen – so verstörend es auch ist, fasziniert es mich, Onlinekommentare zu Artikeln über HIV zu lesen. Nicht nur unter meinen Artikeln, auch im Boulevard sowie in sogenannten Qualitätszeitungen. Es kommt mir immer ein bisschen vor, als ob ich einem Unfall zusehen würde – fasziniert und entsetzt zugleich.

«Ein HIV Positiver soll also mit einem Gesunden Sex haben dürfen, ohne dass dieser vorab über seine HIV-Infektion informieren muss? Nein danke, das geht entschieden zu weit.»


Sie mögen nicht repräsentativ sein, aber sie geben mir eine Möglichkeit, meine «Happy-go-lucky-HIV-Blase» zu verlassen. Meine Echokammer, wo alle von der Nachweisgrenze wissen, wo alle tolerant, sexpositiv und aufgeklärt sind. Es ist wie ein Blick in eine düstere Parallelwelt, wo Wut und Ärger das Leben bestimmen. Wo ich in Abgründe und Aggressionen eintauche und einem Schwall von Unwissen, von Halbwissen, von Ignoranz, Dummheit und insbesondere Angst ausgesetzt bin. Aber auch diese Welt ist eine reale. Eine leider viel zu reale.
Zu einem Artikel, in dem es einmal mehr ums Dating mit HIV geht, finde ich wieder einige Prachtexemplare an Kommentaren. Blinde Wut und Ignoranz. Ich finde es eigentlich erschreckend, wie normal es schon geworden ist, diese Sachen zu lesen. Wie normal diese hasserfüllten Rülpser geworden sind. Wie selbstverständlich Menschen ihre wilden Theorien rausbrüllen können. Mich verstört, dass ich kein bisschen schockiert bin, wenn ich abstrusen Theorien über HIV und Aids (oder sonstigen Themen) ausgesetzt bin.

Aber es sind nicht die brutalen Hasskommentare, die mir auffallen, die offensichtlich in einem Wutanfall geschrieben wurden. Es sind die anderen, subtileren, denen ich Aufmerksamkeit schenke. Jene Kommentare, die einen unterdrückt aggressiven Grundtenor des Misstrauens gegenüber HIV-Positiven haben. Die ruhig und gelassen die Grundangst vor HIV in der Gesellschaft schüren.

*«Man muss das Gegenüber sehr gut kennen, damit man mit dem Intimen einverstanden ist.
Sie ist positiv und in Therapie, also unter der Nachweisgrenze! Nein, da werde ich nicht intim, erst dann, wenn ich weiss, dass sie die Therapie auch RICHTIG durchzieht und ihre Medis täglich nimmt. Vertrauen muss ich ihr können, in diesem Thema.»


In dieser anderen, realen Welt sind wir Positiven unverantwortlich. Uns wird nicht zugetraut, jeden Tag eine Pille zu nehmen. Uns wird unterstellt, beim Sex unvorsichtig zu sein. Wir sind schmutzig und unmoralisch. Die anderen sind die Gesunden – wir die Kranken. Und vor allem ist uns Positiven egal, ob wir das Virus weitergeben. Ich glaube, ich kann für viele Positive sagen: Das ist doch unsere grösste Angst, dieses Virus weiterzugeben. Insbesondere jemandem, den wir lieben. Diese Angst, die tief sitzt und uns unserer Intimität beraubt.

*«Wenn ich die Wahl habe, nehme ich lieber eine Gesunde. Ein Restrisiko bleibt in jedem Fall. Siehe Impfdurchbrüche.»

Das Lesen dieser Kommentare hilft mir, diese andere Welt zu sehen. Und zu realisieren, dass es nicht so schön, so heil und so einfach ist, wie ich es gern hätte. Wie anders mein einfaches, positives Leben sein könnte, wenn ich dort drüben, in dieser anderen Blase leben würde. Und dass viele Positive noch in jener anderen Welt gefangen sind. In jener Welt, wo wir Positive gefürchtet, unerwünscht und ausgestossen sind. Dieser Angst ausgesetzt zu sein, lässt mich immer wieder erkennen, wie viel noch gemacht werden muss. Von mir, von uns, von den Aids-Hilfen, von der Aufklärung. Denn nur durch das Hinsehen und Benennen weiss ich, wogegen ich ankämpfen muss. Nur durch das Lesen der Kommentare weiss ich, welche Ängste vorherrschen. Welchen Ungeheuern ich mich stellen muss.

Ich frage mich immer aufs Neue: Soll ich auf diese Kommentare antworten? Soll ich zurückschreiben? Ist ein Onlineforum ein Platz für so einen Kampf? Instinktiv will ich es, will schimpfen und erklären und aufklären. Aber ich befürchte, so einfach ist es nicht. In dieser Onlinewelt der Angst kann ich wohl nur verlieren, es ist ein zu feindliches Terrain, wo ich in der Minderheit bin. Aber trotzdem müssen wir diese Menschen erreichen. Eine Toleranz gegenüber Intoleranz aufbauen. Immer wieder kommt mir die Erinnerung hoch, als in einem Gespräch eine gebildete junge Frau meinte: «Ich hätte lieber Krebs als HIV.» Und die Ohnmacht, die ich damals spürte: Wie soll das gehen, wenn selbst gebildete Menschen weiterhin dieses Unwissen über HIV haben – und das Misstrauen gegenüber Positiven?

*«Wenn ohnehin alles ganz harmlos und unter Kontrolle ist, wo stecken sich dann die neu Erkrankten an? Wir brauchen keine Aids-Hilfe, sondern eine Plattform gegen Aids.»


Ein Welt-Aids-Tag im Jahr ist da wohl nicht genug. Es ist gut, dass es ihn gibt, dass einmal jährlich auf HIV hingewiesen wird. Aber medial scheint er mir nicht mehr ernst genommen zu werden.

Jedes Jahr kommen die Anrufe, die Fragen nach dem obligatorischen Interview – für den einen Tag. Meistens ein paar Tage vor dem 1. Dezember. In Eile. Eine Last-minute-Erkenntnis der Redaktionen, dass man doch irgendwas zu diesem Tag machen sollte, «halt irgendeinen Aids-Menschen interviewen». Mittlerweile kommt es mir schon vor, als ob diverse Medien eine Art Aids-Äffchen suchen, das sie zum Welt-Aids-Tag präsentieren können. Das Interview abtippen und fertig. Und das war’s dann für die nächsten zwölf Monate.

Wie soll sich denn die Gesellschaft an neue Botschaften gewöhnen, wenn diese nur einmal im Jahr kommuniziert werden? So kann man nicht aufklären. So kann man nicht Wissen vermitteln. Wenn ich als Positiver schon Jahre gebraucht habe, um Dinge wie die Nachweisgrenze zu internalisieren – wie soll das ein Normalsterblicher jener anderen Welt je schaffen, der einmal im Jahr mit diesen Informationen in Kontakt kommt? Da lobe ich mir die Schweizer Aids-Hilfe und ihre Mitarbeitenden: Regelmässige Kampagnen und Aufklärung – nicht nur anlassbezogen im Dezember. Weiter so! Und ausbauen!

*«Das ist schon seltsam. Bei jedem Kuchen muss mittlerweile dabei stehen, was drin ist. Jedes Restaurant muss anführen, was für allergierelevante Lebensmittel verkocht werden. Jede Fleisch- oder Milchpackung muss die Herkunft beweisen usw. Da geht’s um die Gesundheit. Und bei einer Infektionskrankheit soll der Infizierte jetzt nicht mehr sagen müssen, dass er eben gesundheitsgefährdend sein kann?»


Was wünsche ich mir? Wo liegt meine Hoffnung? Ich sehe es in so vielen Ländern: Es wird viel Aufklärung betrieben – die sich aber vorwiegend an die übliche Zielgruppe richtet. Die Zielgruppe meiner heilen HIV-Welt. Die bereits das Wissen hat, die sexpositiv, tolerant und aufgeklärt ist. Jedoch müssen wir uns der Angst der anderen stellen. In jene Parallelwelt vordringen, um die Vorurteile zu bekämpfen. Immer wieder die Fakten kommunizieren. Wir müssen auf Langstrecke fliegen. Und wie wir einem Kind immer wieder das Zähneputzen nahelegen, müssen auch wir unsere Botschaften immer und immer wieder vermitteln. Und dabei stets neue, kreative Wege finden. Weil sonst niemand mehr zuhört.
Mit Freude und Zuversicht sehe ich aber auch, wie sich die Arbeit der letzten Jahrzehnte bezahlt macht. Obwohl es immer unbelehrbare Hasser und Kommentarschreiber geben wird, kann ich die Früchte der Aufklärung bei jungen Menschen schon erkennen. Menschen unter dreissig wissen oft von der Nachweisgrenze, haben tolerante und verständnisvolle Ansichten und leben offener, als ich mir das in dem Alter je hätte vorstellen können. Und je mehr ein «Normalsterblicher» von HIV weiss, desto leichter wird das Leben für die HIV-positiven Menschen. Ja, Fortschritt dauert. Und so frustrierend dieser ewige Kampf auch ist, geht es doch ganz, ganz langsam in die richtige Richtung. Und das dürfen wir nie aus den Augen verlieren. Das muss uns immer wieder bewusst gemacht werden.

Dazu ist auch unsere Echokammer da – um uns gegenseitig Mut zu machen. Zuversicht zu zeigen und auch zu sagen: Danke. Gut gemacht. Weiter so.

Danke. Gut gemacht. Weiter so.

*Alle Kommentare stammen aus sozialen Medien in der Schweiz und in Österreich. Wer sie verfasst hat, ist unwichtig.

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