Die tatsächliche Erfahrung ist der Tod vom Reiz des Unbekannten : Aids-Hilfe Schweiz

Die tatsächliche Erfahrung ist der Tod vom Reiz des Unbekannten

Nicht alle Menschen konsumieren Pornos. Ein Erfahrungsbericht von Christopher Klettermayer, Autor und Künstler, seit 2013 HIV-positiv und HIV-Aktivist.

Christopher Kletter­mayer

Ich bin Autor, Fotograf und Künstler. Vor meiner HIV-Diagnose 2014 arbeitete ich als Fotograf in den

Bereichen Reportage und Mode. Nach meiner Diagnose rückten für mich das Thema HIV und die gesellschaftlichen und soziologischen Aspekte des Virus in den Vordergrund. Bis vor Kurzem arbeitete ich unter dem Pseudonym Philipp Spiegel. Heute versuche ich meine künstlerischen Tätigkeiten mit dem Schreiben über mein Leben mit

HIV und über Sexualität und Männlichkeitskonstrukte zu verbinden.

www.philipp-spiegel.com
www.cklettermayer.com

Christopher Klettermaye | Juli 2021

«Wie? Du schaust keine Pornos?? Das glaub ich dir jetzt aber nicht.» Ungläubig. Fassungslos. Schockiert. Skeptisch.

Jedes Mal, wenn ich erzähle, dass ich keine Pornos schaue, kommen diese Reaktionen. Jedes Mal fühle ich mich, als ob ich mich rechtfertigen muss. Als ob etwas mit mir nicht in Ordnung ist oder ich mich genieren müsste.

«Ist doch das Normalste der Welt!», heisst es dann immer. Nein. Eben nicht. Nicht für mich. Und das war schon immer so.

Ich konnte jedoch nie so konkret beschreiben, warum mich pornografisches Material, in welcher Form auch immer, schlichtweg nicht interessiert.

Schon als Jugendlicher haben mich Pornos und Sexmagazine nicht interessiert. Selbstverständlich gab es immer eine Faszination und eine Neugier. Ohne Internet war der Zugang dazu natürlich schwieriger. Aber auch mit Zeitschriften, «Playboy» oder sonstigem Material, zu dem ich sogar Zugang gehabt hätte, war es immer dasselbe Gefühl. Ich sah es mir an und war gelangweilt. Zu plump. Zu banal.

Ich konnte jedoch nie so konkret beschreiben, warum mich pornografisches Material, in welcher Form auch immer, schlichtweg nicht interessiert. Bis vor ein paar Jahren, als eine E-Mail in mein Postfach flatterte.

«Hallo Christopher! Mir wurde deine Adresse von einer Freundin weitergeleitet. Wir sind momentan auf der Suche nach kreativen Autoren, die sich im Erotikbereich ein wenig austoben möchten! Es geht um kurze Szenen, die wir als Vorlage für kurze Videos machen wollen …» Oder so etwas in die Richtung.

Wow, denk ich mir, das hört sich richtig spannend an! Erotisch geschrieben habe ich immer schon gern. Zumindest mit ein paar meiner Ex-Freundinnen. Wo wir uns in Fantasien, Tagträumen und schönen Schweinereien beschrieben haben, was wir nicht alles miteinander aufführen wollten. Und damit im Erotik-Filmbereich Fuss fassen? Warum nicht? Immerhin schauen ja angeblich alle Pornos. Das kann doch nicht so schwer sein.

Nach einigen Telefonaten und Absprachen darüber, wie diese Texte nun aussehen sollen, wage ich mich an diese neue Herausforderung. Was ich jedoch verschweige, ist, dass ich selber keine Pornos schaue.

Nichtsdestotrotz fange ich an zu schreiben. Ich soll mir Alltagsszenen mit einer «sexy girl-friend» ausdenken, die die Fantasie anregen und die einsamen Männer anmachen sollen. Ganz aufgeregt lege ich los.

Ich darf Regie führen und suche Inspiratio-nen teils aus vergangenen Beziehungen, teils aus meinen alltäglichen Tagträumen. Ich stelle mir kleine Szenen vor, Momente, die mich anmachen, aber auch Szenen, die ich immer in meiner Fotografie festhalten wollte. Vereinfachte Erotik. Simplifiziertes Sexuelles. Aber nie zu explizit. Mit grosszügigem Spielraum für die eigene Fantasie.

Sie kommt gerade aus der Dusche. Ein strahlend weisses Handtuch ist um ihren Körper gewickelt. Sie lächelt dich an. Einzig ihre nackten Schultern sind entblösst. Der feuchte, geduschte Körper ist noch verborgen.

Sie setzt sich neben dich. Ihre Schultern glänzen. Glatt, glitschig, nackt ...

Eine Mischung aus Vergangenem und Fantasie. Eine Alltagssituation, die ich schon hundertfach erlebt habe, versuche ich in eine lustvoll verspielte Szene zu transformieren. Es turnt mich an.

… ihre nassen, triefenden Haare fallen über ihr Gesicht. Zwischen den Strähnen siehst du ihr lustvolles, verspieltes Lächeln.

Wassertropfen bilden sich auf ihren Schultern, ihrem eleganten, langen Hals. Sie spielt mit den nassen Haaren, wirft sie zurück. Du inhalierst den Duft ihrer feuchten, weichen Haut … du kannst sie förmlich auf deinen Lippen schmecken.

Langsam öffnet sie den Knoten des Handtuchs …

Erinnerungen an die eine oder andere Ex blühen auf. Erinnerungen an leidenschaftlichen Sex auf dem Fussboden …

Kurz denk ich mir, also so etwas beruflich zu machen, wäre ja perfekt. Szenen auszudenken und aufzuschreiben, die mich aufgeilen. Ich schlage weiter in die Tasten.

… Stück für Stück lässt sie dich erahnen, was sich unter dem Handtuch verbirgt. Stück für Stück kommst du ihrer Nacktheit entgegen. Sie führt eine Hand unter das Handtuch – zwischen ihre Beine. Sie beisst sich lustvoll in die Lippe.

Je mehr sie sich berührt, desto aufgeregter ist sie. Das Handtuch verrutscht immer mehr. Du kannst immer mehr erspähen. Die erste Brust zeigt sich. Wunderschön delikat geformt – nass glänzend nach der Dusche.

Das Handtuch verrutscht noch mehr. Ihre Formen zeigen sich – ihre Brüste, ihr wunderschöner Bauch …

Und jetzt?

Auf einmal ist Schluss. Nichts regt sich mehr. Irgend­wie alles so unsexy. Die ganze Aufregung und Erregung, die sich beim Schreiben meiner Fantasie entfacht hatte, hat sich in Luft aufgelöst.

Jetzt soll sie sich berühren. Aber wie soll ich das schreiben? Vagina? Clitoris? Möse? Fotze? Fut?

Und dann erst recht beim Mann? Penis? Schwanz? Pimmel? Kolben? Rüssel?

Noch dazu habe ich keine Ahnung, wie ich auf Safe Sex hinweisen soll. Werden in Pornos überhaupt Kondome benutzt?

Auf einmal ist Schluss. Nichts regt sich mehr. Irgendwie alles so unsexy. Die ganze Aufregung und Erregung, die sich beim Schreiben meiner Fantasie entfacht hatte, hat sich in Luft aufgelöst.

Die Szene ist an dem Punkt angelangt, der mir nichts gibt. Wo auch in meinem Pornokonsum immer Schluss ist. Jetzt wäre der Moment, wo der tatsächliche Sex passieren sollte. Wo das Spiel und die Antizipation auf einen körperlichen, mechanischen Akt reduziert wird.

Klar ist der wunderschön. Aber den zu beschreiben oder ihn vor mir zu sehen, ist dann doch etwas anderes. Sobald dargestellter Sex oder Erotik die Ebene der Vorfreude und der Fantasie verlässt, wird er für mich als Zuschauer einfach langweilig. Eine eintönige, vulgäre Banalität. Ein bisschen rhythmisches Grunzen, ein bisschen rhythmisches Stöhnen. «Ping!» Fertig.

Ein bisschen wie ein Fertiggericht. Klar, da gibt es was zu essen. Ohne Geschmack, ohne Geruch, ohne Tiefe. Lediglich zum Zweckerfüllen. Aber so richtig satt wird man bei diesem künstlichen Zeug nie.

Als ich bei der Auftraggeberin anrufe, ihr meine bisherigen Texte zeige, heisst es klinisch-kalt: «Hach, da ist viel zu viel beschrieben. Dass muss viel kürzer und kompakter sein. Es soll dann gleich mal zur Sache gehen.»

Gut. Dann probiere ich noch ein wenig rum und versuche Inspiration zu finden. Pornos findet man ja angeblich recht schnell im Internet. Einerseits probiere ich es im klassischen Pornhub, andererseits bei den kontemporären «Feminist Porn»-Seiten wie etwa bei Erika Lust.

Bei Pornhub klicke ich mich neugierig und durchaus fasziniert durch unzählige Filmchen. Ein paar Minuten schaue ich die eine Fantasie an, dann klicke ich mich ganz einfach zur nächsten. Ich durchforste meine verschiedenen Präferenzen und Konstellationen. Wage mich neugierig in neue, verheissungsvolle sexuelle Praktiken und Territorien. Und ja, anfangs regt sich immer ein bisschen was.

Die Standbilder und Beschreibungen sind verführend, spannend und regen nicht nur die Fantasie an. Aber sobald ich draufklicke, starten die Videos. Und der übliche Scheiss geht von vorn – oder in manchen Fällen von hinten – los.

Künstliches Herumgebumse. Verzogene Gesichter, Grunzen, Stöhnen, Schreien wie am Spiess. Übertriebenes Auf-und-ab-Hoppeln. Eigentlich irgendwie peinlich. Und eigentlich hat das rein gar nichts mit Sex zu tun. Eher mit einem Mikrowellengericht. So was kann ich einfach nicht schreiben.

Gut. Dann probiere ich mal die «Adult Film»-Szene. Künstlerisch wertvolle Inszenierungen, richtige Produktionen (nicht am Handy gefilmt). Darstellerinnen und Darsteller, die schauspielern können, schöne Beleuchtung. Sex-positive Inhalte. Und, man glaubt es kaum, ein Handlungsstrang! Laut einer Bekannten, die für Erika Lust arbeitet, wird bei diesen Produktionen sehr auf Safe Sex geachtet. Im Film ist jedoch nichts davon zu sehen.

Ja, die sind schön gemacht. Da kann man mehr Leidenschaft, Emotion oder zumindest mehr als ein «Reinstecken und Abspritzen» erkennen.

Aber auch hier ist es irgendwie … öd. Ja, es ist ja ganz nett anzusehen. Aber erregt bin ich noch lange nicht. Die Handlungsstränge enden dann halt doch immer im üblichen Stöhnen und Hoppeln. Auch wenn die Kameraführung und die Beleuchtung schöner sind.

Da tu ich mich doch mit meiner eigenen Fantasie leichter.

Ein paar Tage gebe ich mir noch Zeit zu recherchieren. Schaue mir weitere Filmchen an, versuche Wege zu finden, sie auf eine Art zu beschreiben, die passend wäre. Aber es regt sich nichts.

Ganz im Gegenteil. Ich merke, je mehr ich mir ansehe, desto weniger eigene Kreativität kommt auf. Anstatt der Regisseur meiner eignen Ideen zu sein, reduziert sich meine Fantasie auf eine Beobachterrolle.

Meine «persönlichen kleinen Perversionen», die ich stets immer genossen habe, werden von der billigen Bilderflut der Pornos überschrieben – und das gefällt mir gar nicht. Diese Filmchen fangen an, meine eigene fantastische Lust zu zerstören.

Um dagegenzuwirken, zieh ich mir Filme rein, «In the Mood for Love» oder «Bitter Moon», Filme, die ich immer als erotisch empfunden habe. Wo Sex angedeutet wird. Wo Sex im Kopf stattfindet. Off-camera. Und somit in meinem Kopf. Und ich muss an die Parallelen zur Fotografie denken. An die Dinge, die mich auch hier immer gestört haben.

Der Grat zwischen billigen Pornobildern und erotischer Schönheit ist schmal. Manchmal entscheidet ein Blickwinkel, ein Gesichtsausdruck oder eine Pose, in welche Kategorie das Bild fällt.

Viele Fotografen fokussieren auf Titten, Ärsche, Muskeln oder billige Dessous auf Leo-parden-Print-Teppichen. Sie schaffen vulgäre Bilder, die einen genauso wie Pornos angrunzen.

Und dann gibt’s die anderen, die den Sex in Mimik, in Gestik und in Kleinigkeiten wiedergeben können. Die einen voll bekleideten Menschen erotischer wirken lassen können als jeder Porno.

Ich merke, dass ich in meiner Fotografie auch immer versucht habe, mit dem Reiz des Verborgenen zu spielen. Dass ich durch das explizite Verstecken eine viel schönere, intimere Erotik schaffen kann, als man durch Nacktheit schafft. Diskret, geheim, subtil.

Eine verborgene Fantasie kann so viel erotischer und erregender sein als eine ausgelebte. Schliesslich ist die tatsächliche Erfahrung der Tod vom Reiz des Unbekannten.

Somit beschliesse ich, meine Karriere als Pornoautor und -konsument wieder an den Nagel zu hängen. Ich kann es einfach nicht.

Da schliesse ich lieber meine Augen und lass meine eigenen schmutzigen Filmchen laufen.

Lights, camera, action!

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