Pornografie zwischen Normierung und Utopie : Aids-Hilfe Schweiz

Pornografie zwischen Normierung und Utopie

Wo lässt sich die Pornografie 2021 festmachen? Lässt sie sich überhaupt beschreiben? Wer bestimmt die Normen, die Ideale, das sexuelle Begehren, wer den Diskurs? Eine philosophische Betrachtung der pornografischen Landschaft.

Nathan Schocher
Leiter Programm Menschen mit HIV der Aids-Hilfe Schweiz.

NATHAN SCHOCHER | Juli 2021

«Bachelor» und «Bachelorette» oder «Germany’s Next Top Model» sind Beispiele aus dem Reality-TV, die uns mit an die Pornografie angelehnten Bildern und Körpern konfrontieren. Eine neue Generation feministischer Autorinnen kritisiert mittels dem Schlagwort Pornografisierung diesen nicht nur im Reality-TV gegenwärtigen Porno-Chic. Die Autorin und Aktivistin Gail Dines etwa beschuldigt in ihrem populären Buch «Pornland: Wie die Pornoindustrie uns unserer Sexualität beraubt» (2010) die Porno-industrie, aus unserer Gesellschaft eine Art pornografisches Disneyland geschaffen zu haben. In ihm herrschten die Normen des pornografischen Blicks – eines Blicks, der unsere Körper und unsere Sexualität zur Ware verdinglicht. Ich stimme dieser Kritik insofern zu, dass Dines hier ein Moment des neo-liberalen Kapitalismus aufgreift, der seine Leistungsnormen auf unsere Körper und Sexualitäten ausdehnt. Sie hat auch recht damit, dass dieser Blick aufgrund der ungleichen Geschlechterverhältnisse Frauen anders trifft als Männer. Ich bestreite allerdings, dass Sexualität etwas ist, das einem jemand rauben kann.

Biologie war gestern

Menschliche Sexualität lässt seit je ihre biologische Funktion der Fortpflanzung hinter sich. Sie ist immer eingebettet in symbolische und gesellschaftliche Ordnungen, die sich nicht nur verändern, sondern die Sexualität bis auf den Grund ihres Wesens umzukrempeln vermögen. Normen und Ideale geben Verhaltensweisen vor, die wir entweder selbst zum Beispiel mittels Sport oder Körperpflege einüben oder die uns in Schule oder Militär vermittelt werden. Doch wie sehen diese Normen aus? Die Philosophin Judith Butler hat diese Normen als Matrix beschrieben, bestimmt von den Achsen der Zweigeschlechtlichkeit und des gegengeschlechtlichen Begehrens. Um für die Gesellschaft als Subjekt verstanden zu werden, ist ein Kontinuum verlangt von biologischem Geschlecht, sozialer Geschlechts-identität, sexuellem Begehren und sexueller Praxis. Wer beispielsweise als Mann erkennbar sein möchte, muss einen Penis haben, männlich aussehen und sich männlich verhalten, Frauen begehren und mit Frauen Sex haben. Weicht ein Individuum in einem oder mehreren Punkten von diesem Kontinuum ab, setzt es sich dem Risiko aus, von der Gesellschaft nicht mehr verstanden und nicht als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden.

Jenseits der Grenzen

Greifen wir aus diesem Kontinuum von Geboten nun das Element des sexuellen Begehrens heraus. Laut dem Philosophen Georges Bataille überschreitet das Begehren immer schon die Grenzen dessen, was einem Subjekt als Sexualität zu leben möglich ist. Sexuelles Begehren ist also immer mehr als gelebte Sexualität. Dieser Überschuss kreiert Fantasien, die gleichermassen mit Lust und Angst besetzt sind. Pornografie verstehe ich als einen Ausdruck dieser Fantasien – eine Bühne, wo diesen Fantasien für das Subjekt gefahrlos begegnet werden kann, wo dieser Zustand der Angstlust gefahrlos genossen werden kann. Dies möchte ich am Beispiel der schwulen Pornografie näher erläutern.

Subkultur Gay Community

Pornografie scheint in der Gay Community eine andere Rolle zu spielen, als es bei Heterosexuellen der Fall ist. Die grössere Sichtbarkeit etwa in schwulen Bars und Buchläden lässt eine grössere Akzeptanz und geringere Tabuisierung der Pornografie vermuten. Was ist der Grund für das vergleichsweise entspannte Verhältnis der Schwulen zur Pornografie?

Die enge Verbundenheit der Gay Community mit Pornografie hat ihre Wurzeln in der Stigmatisierung dieser Gemeinschaft. Die Strafbarkeit und die Verfolgung der Homosexualität führten dazu, dass sich Schwule lange Zeit nur im Verborgenen treffen konnten. So bildete sich bei Schwulen eine Subkultur heraus, die bestimmte ästhetische Codes entwickelte.

Die enge Verbundenheit der Gay Community mit Pornografie hat ihre Wurzeln in der Stigmatisierung dieser Gemeinschaft. Die Strafbarkeit und die Verfolgung der Homosexualität führten dazu, dass sich Schwule lange Zeit nur im Verborgenen treffen konnten. So bildete sich bei Schwulen eine Subkultur heraus, die bestimmte ästhetische Codes entwickelte. Diese den Heterosexuellen im Allgemeinen unbekannten Codes bezweckten einerseits, dass Schwule auf Partnersuche einander leicht erkennen konnten. Andererseits hatten sie den Effekt eines Community Building: Gemeinsame Codes schweissen eine Szene, deren Mitglieder sich im Alltag nicht zueinander bekennen dürfen, zusammen. So entstand eine schwule Identität, die sich stark über ästhetische Merkmale definiert. Welche Rolle spielt nun schwule Pornografie in der Hervorbringung dieser Identität?

Pornografie hat, wie wir schon gesehen haben, einen transgressiven Charakter; das heisst, sie bietet dem Begehren, das die sexuellen Normen der Gesellschaft überschreitet, eine Plattform. Da Pornos zeigen, was sich Menschen heimlich wünschen, zeigen schwule Pornos natürlich eine ganze Palette idealisierter Männlichkeiten und, ebenfalls wichtig, detaillierte schwule Sexualpraktiken. Dies ist deshalb nicht banal, weil Wissen über schwule Sexpraktiken in der Öffentlichkeit sonst kaum zirkuliert.

Schwule Pornos stellen demnach wie bestimmte Saunas, Parks oder Darkrooms eine Parallelwelt dar, wo Männer für sexuelle Praktiken verfügbar sind, die in der Gesellschaft tabuisiert werden. Sie bilden eine Fantasiewelt, wo schwules Begehren keinerlei gesellschaftlichen Einschränkungen unterliegt. Damit vermitteln Pornos eine virtuelle Heimat für schwule Identität. Gleichzeitig prägt die Hypermännlichkeit und Hypersexualität der Schwulenpornos die Gay Community derart stark, dass ein negativer Effekt auf Schwule, die diesen ästhetischen Standards nicht entsprechen, wahrscheinlich ist.

Ich präsentiere mich

Ein Beispiel hierfür: Auf Dating-Sites präsentieren sich Schwule in Form von Profilen. Dazu müssen sie sich anhand von Kategorien selbst beschreiben und einstufen, die aus der schwulen Pornografie entlehnt sind. Dabei geht es sowohl um äusserliche Merkmale wie auch um sexuelle Vorlieben, Praktiken und Fetische. Dazu müssen die Profile mit Bildern versehen werden, die sich stark an die Ästhetik der Schwulenpornos anlehnen. Wer sich dem nicht unterwerfen möchte, kann sich zwar bei diesen Sites anmelden, er bleibt jedoch für die Suchfunktionen und Ratings des Portals weitgehend unauffindbar, seine Sichtbarkeit ist deutlich eingeschränkt. Körperlich Behinderte etwa oder Übergewichtige, für die ja vielleicht solche Portale besonders wichtig wären, werden so bereits durch die Vorgaben der Sites unsichtbar gemacht. Damit hat schwule Pornografie ebenso normierende Effekte wie heterosexuelle Mainstream-Pornografie.

Zusammenfasend lässt sich sagen, dass Pornografie gesellschaftliche Normen spiegelt und gleichzeitig Utopien von deren Überwindung schafft. Gesellschaftliche Machtverhältnisse sind in der Pornografie omnipräsent: Es wimmelt von Polizisten und Gefangenen, Chefs und Angestellten, Ärzten und Krankenschwestern. Geschlechterstereotype Rollenerwartungen sind mit diesen Machtverhältnissen verwoben und mitgespiegelt.

Das utopische Moment der Pornografie ist, dass in ihr alles und jedes ein Anlass für Sex sein kann, dass alle überall und jederzeit Lust auf Sex haben. Die in der Pornografie gespiegelten gesellschaftlichen Normen und Machtverhältnisse können so durchbrochen und übertreten werden.

Das utopische Moment der Pornografie ist, dass in ihr alles und jedes ein Anlass für Sex sein kann, dass alle überall und jederzeit Lust auf Sex haben. Die in der Pornografie gespiegelten gesellschaftlichen Normen und Machtverhältnisse können so durchbrochen und übertreten werden. Dies macht sich die in den letzten Jahren wachsende Szene der Postpornografie zunutze. Ihre Experimente setzen bewusst auf eine Vielfalt von Körpern, Schönheitsidealen, Geschlechtern und sexuellen Orientierungen, um herrschende Normierungen aufzubrechen. Die Pornografisierung der Gesellschaft bietet aus dieser Perspektive eine Chance, das Wissen über unsere beschränkte und regulierte Sexualität zu erweitern und Möglichkeiten zu deren Überwindung zu suchen.


BUCHTIPP

Nathan Schocher: «Der transgressive Charakter der Pornografie.Philosophische und feministische Positionen»

Unsere Gesellschaft hat ein ambivalentes Verhältnis zu Pornografie. Auf der einen Seite finden viele Menschen Pornografie problematisch. Deren zum Teil gewaltförmigen, rassistischen und frauenfeindlichen Inhalte stossen auf Kritik. Auf der anderen Seite wird Pornografie täglich von einer grossen Anzahl Menschen genutzt und zumindest teilweise als ermutigend und bestärkend empfunden. Was erregt, erregt offenbar auch Anstoss – aktuell vor allem im Rahmen zweier Debatten: Die eine fokussiert die sogenannte Pornografisierung der Gesellschaft. Die andere dreht sich um alternative Konzepte zur Mainstreampornografie wie etwa die Postpornografie.

Mit Pornografisierung ist sowohl der erleichterte Zugang zu Pornografie aufgrund der technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gemeint als auch der Einzug pornografischer Bilder und Standards in Pop- und Alltagskultur. Alternative Pornografie-Konzepte wie die Postpornografie hingegen entspringen dem Aktivismus sexueller Minderheiten. Diese versuchen, der warenförmigen Mainstreampornografie eine eigene Pornografie entgegenzusetzen, die frei von Sexismus und Normierungen ist.

Nathan Schocher zeigt in diesem Buch, dass beide Debatten letztlich ihren Ursprung in einem transgressiven Charakter der Pornografie haben. Darunter versteht er den Umstand, dass sich Pornografie immer an den Grenzen der herrschenden Normen zur Sexualität ansiedelt. Damit spiegelt sie einerseits diese Normen, andererseits erotisiert sie deren Überschreitung. Um diesen Gedanken plausibel zu machen, unternimmt er einen Streifzug durch verschiedene philosophische Konzepte zur Sexualität etwa von Freud, Foucault und Bataille, setzt sich aber auch mit feministischer Pornografie-Kritik von Dworkin, Butler und Preciado auseinander. Auf diesem Weg entwickelt er ein Instrumentarium, mit dem sich ein differenziertes Bild des transgressiven Charakters der Pornografie zeichnen lässt.

Nathan Schocher: «Der transgressive Charakter der Pornografie. Philosophische und feministische Positionen» 2021transcript Verlag, 236 Seiten. Erhältlich bei Queerbooks für CHF 61.–

Nathan Schocher, geb. 1978, hat am philosophischen Seminar der Universität Zürich promoviert und war Mitglied des Graduiertenkollegs am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Er arbeitet als Programmleiter bei der Aids-Hilfe Schweiz.

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