«Ob HIV in der Ausbildung thematisiert wird, ist willkürlich» : Aids-Hilfe Schweiz

«Ob HIV in der Ausbildung thematisiert wird, ist willkürlich»

Menschen mit HIV werden oft diskriminiert – häufig im Gesundheitswesen. Viele Fachpersonen wissen nicht, dass mindestens 95 Prozent der Menschen mit HIV in der Schweiz unter erfolgreicher Therapie sind und somit das Virus nicht weitergeben können.

Prtrait von Anina Müller

Anine Müller (20)
hat 2021 am Kinderspital Zürich die Berufsausbildung zur Fachfrau Gesundheit abgeschlossen, wo sie unter anderem auf der Neonatologie und Poliklinik gearbeitet hat. Seit Sommer 2022 studiert sie Humanmedizin an der Universität Zürich.

Interview: Jan Müller | November 2022


Frau Müller, war HIV bei Ihnen in der Ausbildung ein Thema?

HIV war im Berufsschul-Unterricht ein Thema im Rahmen der sexuell übertragbaren Krankheiten. HIV war eine der fünf «Standardinfektionen», die thematisiert wurden. Es ging unter anderem darum, was der Unterschied zwischen HIV und Aids ist, wie die Situation in der Schweiz ist und was es für uns in der Pflege bedeutet. Wir haben gehört, was HIV grundsätzlich ist und wie es übertragen wird – wo also auch die Gefahren einer Ansteckung für uns Pfleger:innen liegen. Viel weiter als der Aufklärungsunterricht in der Sekundarschule ging es dabei jedoch nicht. Zudem war HIV ein Thema im überbetrieblichen Kurs (ÜK) zum Thema Blutentnahme. Die Blutentnahme wurde als mögliches Ansteckungsrisiko erwähnt in Bezug auf HIV. Es wurde uns beispielsweise vermittelt, dass Handschuhe einen gewissen Schutz bieten, falls man sich sticht.

Die Blutentnahme wird als einziges Ansteckungsrisiko genannt?

Blutentnahme ist sicher ein wichtiges Thema, gerade auch weil man davor, frisch in der Ausbildung, ganz grundsätzlich Respekt hat. HIV war jedoch auch ein Thema zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Thema Körperpflege: wo sind dort Handschuhe nötig und wo eben auch nicht. Es wurde klar gesagt, dass man sich beispielsweise nicht mit HIV anstecken kann, wenn man einer Person den Rücken eincremt. Ob HIV in der Ausbildung thematisiert wird, ist jedoch willkürlich und hängt stark von den Lehrpersonen ab.

HIV ist schwer übertragbar, daher ist das Ansteckungsrisiko gering. Haben Sie das gelernt?

Nicht explizit. Wir haben zwar die Übertragungsarten besprochen, sind aber nicht auf das tiefe Ansteckungsrisiko eingegangen. Dafür haben wir die Medikamente einer Prä- und Postexpositionsprophylaxe (PrEP / PEP) angeschaut, die verhindern können, dass Übertragungen mit dem HI-Virus stattfinden. Diese Medikamente wurden zwar vorwiegend in Bezug auf besonders betroffene Personen erwähnt, es war für unsere Klasse dennoch ein «Aha-Moment», dass es diese Medikamente gibt. Und ebenso, dass in der Schweiz bei den allermeisten Menschen mit HIV die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt.

Wurde HIV als spezielles Risiko im Berufsalltag genannt?

Nein, es ging stets ganz generell darum, Risiken zu vermeiden – HIV wurde nicht speziell erwähnt. Denn die eigene Sicherheit von uns Fachpersonen Gesundheit ist immer wichtig, nicht nur im Zusammenhang mit HIV.

Fühlten Sie sich durch die Theorie auf die Praxis vorbereitet?

Ich glaube, das Schwierige an der Ausbildung zur Fachperson Gesundheit ist, dass sie so generalistisch aufgebaut ist. Eine hundertprozentige Vorbereitung ist nie möglich, denn es ist immer abhängig davon, mit welchen Patient:innen man in Kontakt kommt. Ich selbst hatte Kontakt mit jungen Menschen, die mit HIV leben. Aber ich kenne andere, die während der Ausbildung in der Praxis nie Kontakt mit HIV hatten.

Wo hatten Sie Kontakt mit jungen Menschen, die mit HIV leben?

Das war in der Poliklinik, in der ich ein halbes Jahr gearbeitet habe. Wir hatten Kinder und junge Menschen, die seit Geburt mit HIV leben und sich während der Schwangerschaft oder bei der Geburt mit HIV angesteckt haben. Grundsätzlich ist das heute sehr selten. Doch diese Kinder kommen meist aus Ländern, in denen der Zugang zu HIV-Medikamenten sehr erschwert ist und die Virenlast der Mutter deshalb nicht unter der Nachweisgrenze ist. Das zeigt, wie privilegiert wir in der Schweiz sind und wie wichtig es ist, dass alle Menschen weltweit Zugang zu HIV-Medikamenten erhalten. Dieses Wissen habe ich nicht in der Schule erhalten, sondern mir selbst angeeignet und von meiner Berufsbildnerin erzählt bekommen. Diese Kinder und jungen Menschen sind bei uns, weil sie medikamentös so behandelt werden wie Erwachsene. Weil aber Kinder so schnell wachsen, muss die Dosis der Medikamente relativ häufig angepasst werden. Deshalb kommen sie in der Regel halbjährlich oder jährlich für eine Blutentnahme in die Kontrolle, um zu schauen, wie die Virenlast ist und ob die Dosis der Medikamente allenfalls erhöht werden muss. Ich kam mit ihnen in Kontakt, weil ich die Blutentnahmen gemacht habe.

«Wir sprachen über die Übertragungsarten von HIV,
aber nicht über das tiefe Ansteckungsrisiko.»

Wussten Sie, dass Ihre Patient:innen mit HIV leben?

Meine Berufsbildnerin hat mich vorgängig darüber informiert, wenn ein Kind HIV hatte. Das ist eine Diagnose, die wir von den Ärzt:innen immer mitgeteilt bekommen. Ob das notwendig ist, ist wiederum eine andere Frage. Manchmal ist es tatsächlich relevant für die Behandlung, in vielen Fällen wäre diese Information jedoch nicht relevant. Zudem wurde ich daran erinnert, die Standardschutzmassnahmen konsequent einzuhalten, und daran, dass keine besondere Ansteckungsgefahr besteht, weil die Kinder unter medikamentöser Behandlung stehen. Bei uns hat sich noch nie jemand mit HIV angesteckt, ich denke, das in Erinnerung zu rufen, ist auch immer wieder wichtig.

Es werden also keine zusätzlichen Schutzmassnahmen getroffen?

Genau – und das finde ich sehr spannend. Für mich ändert es überhaupt nichts, ob ein Kind HIV hat oder nicht. Bei Pfleger:innen, die nicht mehr in Ausbildung sind, ist das eventuell anders. Dort werden die normalen Schutzmassnahmen manchmal nicht konsequent eingehalten. Wenn dann aber eine Patientin oder ein Patient HIV hat, achtet man sich wieder verstärkt. Doch auch dann gibt es keine zusätzlichen Schutzmassnahmen, man hält lediglich die Standardregeln ein, die sonst im stressigen Berufsalltag untergehen. Manchmal wird also extra deswegen ein Handschuh wieder angezogen, während sonst nicht mehr so penibel darauf geachtet wird.

Löst die Diagnose HIV etwas aus bei Ihnen?

Ja, ich denke schon, aber überhaupt nichts Negatives. Ich weiss, dass keine Gefahr für mich besteht, und achte deshalb ganz bewusst darauf, mich professionell zu verhalten. Ich denke mir immer wieder: «Jetzt tu doch nicht so verkrampft.» Das ist mir sehr wichtig, weil ich weiss, dass Menschen mit HIV auch in der Pflege Stigmatisierung erleben.

Ist Ihnen bei Ihren Arbeitskolleg:innen etwas aufgefallen im Umgang mit Menschen, die mit HIV leben?

Bei uns auf der Poliklinik ist der Umgang sehr entspannt. Wir haben regelmässig Menschen mit HIV bei uns und eine Patientin ist wie alle anderen. Falls es trotz Schutzmassnahmen zu einer Nadelstichverletzung gekommen ist, haben wir das jeweils im Team thematisiert und über mögliche Risiken gesprochen. In diesem Zusammenhang haben Arbeitskolleg:innen, die schon sehr lange auf dem Beruf arbeiten, erzählt, dass dies vor 30 Jahren noch ganz anders aussah. Damals war HIV wirklich noch ein grosses Thema, falls man sich mit einer Nadel gestochen hat. Schliesslich gab es damals noch nicht dieselben wirksamen Medikamente, die es heute gibt.

Haben langjährige Pflegefachpersonen deshalb mehr Vorurteile?

Im Gegenteil! Gerade weil jemand während 30 Jahren immer wieder Patient:innen mit HIV hatte, hat diese Pflegefachperson eben auch erlebt, wie sich die Medikamente entwickelt haben, wie sich damit die Lebensqualität verbessert hat und dass das Risiko heute nicht mehr besteht, wenn eine Person erfolgreich therapiert wird. Wer diese Entwicklung und diesen Wandel hautnah miterlebt hat, hat dadurch meistens Vorurteile abgebaut.

Mehr Berührungspunkte gleich weniger Vorurteile?

Ja, und zwar über alle Generationen hinweg. Je öfters wir Berührungspunkte haben, desto mehr werden Vorurteile abgebaut. Das war auch bei mir so. Bei den ers-ten Patient:innen mit HIV habe ich noch viel mehr daran gedacht, dass ich mich unbedingt «normal» verhalten soll. Inzwischen ist es für mich eine alltägliche Situation.

Wie können Vorurteile ganz generell abgebaut werden?

Am Wissen scheitert es nicht, es fehlen Berührungspunkte. Ich denke, es zählt fast schon zum Allgemeinwissen, dass HIV sehr gut behandelbar ist. Und dennoch ist es sehr wichtig, immer wieder mit diesem Wissen konfrontiert zu werden. Es braucht regel-
mässig einen Reminder! Wir sind in der Pflege wirklich in einer besonderen Situation. Menschen mit HIV müssen im Alltag nicht zwingend erzählen, dass sie mit HIV leben. Wenn sie jedoch zu uns kommen, müssen wir das manchmal wissen. Sie erzählen es also einer wildfremden Person.

Menschen mit HIV erleben häufig Diskriminierung durch Gesundheitsfachpersonen. Wie können Sie sich das erklären?

Ich persönlich kann das nicht verstehen. Es gibt Schutzmassnahmen, die wir bei allen Patient:innen treffen und mit denen wir uns sehr gut schützen können. Und dennoch ist es eine Tatsache, dass es Diskriminierung gibt. Das Gesundheitswesen ist vermutlich nicht überall so offen, wie es sein sollte. Neben dem ganzen Zeitdruck und der generellen Belastung fühlt sich die Diagnose HIV vielleicht manchmal als ein zusätzliches Risiko an, an das man denken muss. Obwohl das nicht der Fall ist, wenn man sich konsequent an die Standardschutzmassnahmen hält. Aber diese Standardschutzmassnahmen brauchen Zeit und werden deshalb manchmal weggelassen, um Zeit zu sparen. Und ja, vielleicht ist es auch Angst.

Sie haben bereits viel Erfahrung im Umgang mit Menschen, die mit HIV leben. Was können Sie Ihren Arbeitskolleg:innen mitgeben?

Die Frage: Wie möchte ich selbst behandelt werden? Wie würde ich mich fühlen, wenn eine Pflegerin oder ein Pfleger schon beim Betreten des Raumes Handschuhe anhat? Wir sollten immer wieder versuchen, die Perspektive zu wechseln und so zu handeln, wie wir selbst behandelt werden wollen, damit wir uns wohlfühlen.

Standardschutzmassnahmen

Die wichtigsten Schutzmass-nahmen bei der Blutentnahme sind die Händedesinfektion, das Tragen von Schutzhandschuhen und die sichere Entsorgung von Einwegmaterial (die Kanüle direkt in den Abwurfbehälter entsorgen und kein Recapping, das heisst, die Schutzhülle nicht wieder zurück auf die gebrauchte Kanüle stecken).

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