«HIV ist noch immer eine Krankheit ohnegleichen» : Aids-Hilfe Schweiz

«HIV ist noch immer eine Krankheit ohnegleichen»

Isabel Cobos Manuel ist Fachfrau Gesundheit in der Abteilung für Infektionskrankheiten am Universitäts- spital Lausanne. Die auf sexuelle Gesundheit spezialisierte Lausannerin arbeitet in einer aufsuchenden Beratungsstelle für Menschen, die mit HIV leben. Die Begegnung mit ihr verdeutlicht, wie stark das HIV-Stigma trotz aller anhaltenden Fortschritte immer noch ist. Und wie unerlässlich eine individuelle Begleitung ist.

© Marilyn Manser

Interview: Antoinne Bal | Dezember 2021

Isabel Cobos, wie gestaltet sich Ihr Beratungsangebot innerhalb der Abteilung für Infektionskrankheiten?
Wir sind drei Gesundheitsfachkräfte, die sich auf die Betreuung von Menschen mit HIV sowie auf den Bereich der Prä-vention spezialisiert haben. Wir bieten Einzelberatungen zur Begleitung von HIV-Betroffenen, mehrheitlich ambulant oder im Rahmen von Hospitalisierungen am Unispital Lausanne. Auch Personen, die eine Prä- und Postexpositionsprophylaxe (PrEP/PEP) erhalten, betreuen wir. Zudem haben wir die Aufgabe, die uns Aufsuchenden entsprechend ihren Bedürfnissen an andere Spezialisten weiterzuleiten. In unserer Arbeit sind wir an ein umfassendes interdisziplinäres Betreuungsnetz angeschlossen. In der ambulanten Beratungsstelle für Infektionskrankheiten am Unispital Lausanne betreuen wir derzeit rund 1200 Patientinnen und Patienten aktiv.

Warum wurde dieses Fachberatungsangebot ins Leben gerufen?
Diese Beratung gibt es seit den ersten Jahren der HIV-Epidemie, aber die Rolle der Pflegeberatung hat sich im Lauf der Zeit weiterentwickelt, um sich den Bedürfnissen von Menschen mit HIV anzupassen. Leider stelle ich fest, dass die Erfahrungen von Menschen, die mit HIV leben, immer noch kaum bekannt sind, selbst im professionellen Gesundheitswesen. Nur die Wenigsten haben eine Ahnung davon, was es heisst, im Jahr 2021 mit dem Virus zu leben. Trotz der Fortschritte der letzten 35 Jahre sind HIV-Betroffene also immer noch mit zahlreichen Formen der Diskriminierung oder Selbstdiskriminierung konfrontiert – der Befürchtung, jemanden anzustecken, der Angst vor dem Publikmachen des HIV-Status oder vor Zurückweisung.

Worin zeichnet sich Ihr Betreuungsangebot zusätzlich aus?
Unser eigentlicher Mehrwert liegt in der Stabilität. Man darf nicht vergessen, dass wir an einem Unispital arbeiten, wo es bei den Assistenzärzt:innen zu regelmäs-
sigen Wechseln kommt. Im Gegensatz dazu ermöglicht es unsere Beratung, mit einer Person einen langfristigen, möglicherweise jahrelangen Weg zu gehen. Infektiolog:innen haben nicht unbedingt die Zeit, sich über rein therapeutische Fragen hinaus mit einem Menschen auseinanderzusetzen. Wir haben das Privileg, ein echtes Vertrauensverhältnis und Nähe aufbauen zu können. Diese Komplementarität ist entscheidend für eine qualitativ hochwertige und aktiv zuhörende Betreuung.

Welche konkreten Angebote bieten Sie Ihren Patient:innen?
Nebst einer gründlichen Evaluierung der individuellen Bedürfnisse bieten wir Gruppenprojekte an, zum Beispiel Therapieworkshops zu Themen, die sich im Rahmen eines Jahresprogramms abwechseln, aber auch monatliche informelle Kaffeetreffen. Ein Kurs in Achtsamkeitsmeditation zur Stressreduktion beginnt Anfang Januar 2022. Alle unsere Programme sind im Hinblick auf klare Ziele ko-konstruiert. Sie wurden aufgrund einer vorherigen Erhebung der Bedürfnisse von Patient:innen, die in unserer Abteilung betreut werden, entwickelt. Wir sind ständig auf der Suche und entwickeln unseren Ansatz fortwährend weiter.

Seit Kurzem bieten Sie ein Peer-Mentoring-Programm an. Können Sie uns etwas darüber erzählen?
Nichts kommt an die Erfahrungen oder den Lebensbericht einer Person heran, die Ähnliches erlebt und durchgemacht hat. Dies kann von den Pflegekräften nicht geleistet werden. Aus dieser Erkenntnis heraus entstand das Mentoring-Projekt. Wir haben eine Gruppe von Peer-Mentor:innen rekrutiert und sie geschult. Derzeit bilden sich Zweiergruppen. Es erstaunt, dass selbst Gleichaltrige – die schon Erfahrung mit der Krankheit hatten – nicht unbedingt jemanden in ihrem Umfeld kannten, der oder die damit lebt. Ich persönlich kenne keine andere chronische Krankheit, bei der es derart schwerfällt, darüber zu sprechen. HIV ist noch immer eine Krankheit ohnegleichen.

Welche Ängste, welche damit verbundenen Stigmata sind heute für Menschen mit HIV die hartnäckigsten?
Das Bekanntmachen des eigenen Status bleibt eine enorme Herausforderung. Es kann das Sexual-, das Liebes- und manchmal sogar das Familienleben beeinträchtigen. Manche Menschen verzichten ganz darauf. Darüber hinaus wiegt – trotz der äusserst beruhigenden Botschaft «U=U» (undetectable = untransmittable, nicht nachweisbar = nicht ansteckend) – die Angst davor, jemanden anzustecken, noch immer schwer. Eine aktuelle britische Studie des National AIDS Trust hat ergeben, dass nur vier Prozent der Bevölkerung von der Botschaft «U=U» überzeugt sind. Dies spiegelt wider, wie schwierig es auch heute noch ist, mit HIV zu leben. Ängste sind stärker als theoretische Kampagnen.

Sie sprechen die psychosoziale Belastung an. Das Gefühl, für eine mögliche Ansteckung verantwortlich zu sein, bleibt für Menschen mit HIV also stark?
Ja, diese mentale Belastung ist insbesondere mit erwarteten Diskriminierungen von aussen verbunden. Das Gesetz sollte diese Belastung tendenziell verringern, da eine Person mit nicht nachweisbarem HIV nicht mehr verpflichtet ist, ihre Diagnose bekannt zu geben. Aber ohnehin ist die Idee, dass jemand die alleinige Verantwortung trägt, an und für sich falsch. Schon immer hat dies Menschen mit HIV zu Unrecht unter Druck gesetzt. Beim Sex mit einer oder mehreren Personen tragen alle gemeinsam die Verantwortung.

Hat die PrEP nicht dazu beigetragen, diesen Druck zu mindern?
Die Verbreitung der PrEP trägt dazu bei, dass die Vorstellung, die Verantwortung liege bei der Person mit HIV, ins Wanken gerät. Da inzwischen alle potenzielle PrEPer sind, fördert dies auf beiden Seiten einen Dialog auf Augenhöhe. Ein schwuler Mann erzählte mir, die PrEP habe für ihn den grossen Vorteil gehabt, dass dadurch im Austausch mit seinen Partnern die Prävention stärker in den Mittelpunkt gerückt sei. Andererseits verhilft sie den Menschen mit HIV nicht unbedingt zu echter Sichtbarkeit.

Wie sieht es mit der Diskriminierung aufseiten der Pflegekräfte aus?
Bedauerlicherweise lässt sich nicht leugnen, dass uns regelmässig von Diskriminierungsfällen in Pflegekreisen berichtet wird. Die Diskriminierung kann sich aus dem Nichtkennen oder Nichtbeachten von Standardmassnahmen ergeben. Manche Pflegekräfte treffen mehr Vorsichtsmassnahmen als nötig, indem sie etwa doppelte Handschuhe tragen oder diese schon anziehen, bevor sie die Wohnung einer Person mit HIV betreten. Es kommt auch vor, dass Menschen mit HIV einen Zahnarzttermin nur zu Randzeiten bekommen. Das ist
ein Unsinn, der zu den unzähligen Diskriminierungen, die eine Person mit HIV schon erlebt hat, noch hinzukommt.

«Unsere Programme sind im Hinblick auf klare Ziele konstruiert. Sie wurden aufgrund einer vorherigen Erhebung der Bedürfnisse von Patient:innen, die in unserer Abteilung betreut werden, entwickelt. Wir sind ständig auf der Suche und entwickeln unseren Ansatz fortwährend weiter.»


Also eine Art hartnäckige Wissenslücke?
Ich falle immer wieder aus allen Wolken, wenn es um Fehleinschätzungen von Menschen mit HIV geht! Gewisse Vorurteile halten sich hartnäckig, insbesondere in Bezug darauf, wie HIV erworben wird. Auch wenn sich Pflegekräfte darüber wundern, dass gewisse Patient:innen den Partner oder die Partnerin nicht über ihren Status informiert haben, höre ich ein moralisches Urteil heraus. Diese Moralvorstellungen darüber, was Menschen mit HIV tun oder nicht tun sollten, schockieren mich am meisten. Umgekehrt können sich Mechanismen einer übermässigen Verharmlosung des Lebens mit HIV zeigen. Die Auswirkungen sind für HIV-Betroffene gleichermassen schwierig. Wir müssen unbedingt mehr darüber sprechen und das Wissen aktualisieren. Andere Pflegekräfte schulen wir mithilfe von Quizfragen, damit sie sich selbst einschätzen können.

Das Gleichgewicht zwischen einer Verharmlosung und den greifbar realen Ängsten, die diese Krankheit noch immer umgeben, scheint schwierig zu sein.
Ja, ich würde gern in einer Zeit leben, in der es keine Rolle spielt, was man sagt. Aber es ist in der Tat noch immer so, dass das Bekanntgeben des HIV-Status selbst im Spital negative Folgen haben kann. Es liegt allein an der betroffenen Person zu entscheiden, wo und wem sie es sagt oder nicht. Ebenso dürfen wir Gesundheitsfachkräfte die Diagnose ohne die Zustimmung der oder des Betroffenen nicht einfach an eine andere Pflegekraft weitergeben. Die Auswirkungen auf das Privat- und Gesellschaftsleben von Menschen mit HIV dürfen daher nicht bagatellisiert werden. Natürlich ist es von grundlegender Bedeutung, weiterhin gute Nachrichten über HIV zu verbreiten, aber ebenso wichtig ist es, der Person, die damit lebt oder davon erfährt, auch jetzt aufmerksam zuzuhören, um zu ermessen, welche Auswirkungen es auf ihr Leben haben kann.

Haben Sie den Eindruck, dass die Covid-19-Pandemie die Einstellungen gegenüber HIV beeinflusst hat?
Während dieser Krise habe ich von den Betroffenen manchmal vor allem ein Gefühl der Ungerechtigkeit gespürt. Der Ungerechtigkeit, zu erkennen, wie viel Geld in den globalen Kampf gegen Covid-19 gesteckt wurde. Es kam zu einer weltweiten Mobilisierung. In Rekordzeit wurde ein Impfstoff entwickelt. Das wirft für Menschen mit HIV zwangsläufig die Frage auf, wo wir stehen würden, wenn sich die Gesellschaft als Ganzes in derselben Intensität mit HIV auseinandergesetzt hätte.

Die Pandemie hat jede und jeden mit Begriffen wie «ansteckend» oder «positiv» konfrontiert. Welches Gewicht haben Worte?
Folgende Analogie habe ich kürzlich in einer Schulung zum Thema Diskriminierung von Menschen mit HIV verwendet: Bei Covid-19 konnten wir alle nachfühlen, wie es ist, sich «infiziert» oder potenziell für eine Ansteckung «verantwortlich» zu fühlen, etwa für die Quarantäne von Personen, mit denen man sich getroffen hat. Ich wollte dem Publikum bewusst machen, dass es nie harmlos ist, sich verantwortlich zu fühlen, und wie wichtig es ist, auf die Wortwahl zu achten und Wörter wie «infiziert» zu vermeiden. Das sind aber leider die Vorstellungen, die an HIV haften. Sie sind diskriminierend und wirken sich auf das Selbstwertgefühl aus. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob die Allgemeinheit wirklich eine bewusste Verbindung zwischen Covid und HIV gemacht hat.

Gibt es Beratungsstellen wie die Ihre auch anderswo?
In der Westschweiz sind wir meines Wissens die einzige Beratungsstelle dieser Art, mit engagierten Gesundheitsfachkräften, die auf die Betreuung von Menschen mit HIV spezialisiert sind. Bei der Umsetzung unseres Peer-Mentoring-Programms haben wir uns von britischen oder US-amerikanischen Initiativen inspirieren lassen, mussten unsere Konzepte jedoch an den hiesigen kulturellen Kontext anpassen. Daneben ist Kanada sehr weit fortgeschritten, was den Einbezug von Menschen mit HIV in die Pflegeeinrichtungen angeht. Und diese Peer-Mentor:innen arbeiten nicht ehrenamtlich. Dort wurde der Mehrwert der gelebten HIV-Erfahrung nicht nur sehr früh verstanden, sondern inzwischen auch professionalisiert. Das finde ich bewundernswert, auch wenn es hier bei uns noch nicht der Fall ist.

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