Ein unermesslicher Schatz – die HIV-Kohortenstudie : Aids-Hilfe Schweiz

Ein unermesslicher Schatz – die HIV-Kohortenstudie

Gleich wie zu Beginn die HIV-Pandemie hat uns COVID-19 innerhalb kurzer Zeit tief geprägt, hat Verunsicherungen und Ängste ausgelöst und viele Fragen aufgeworfen: Besteht eine Wechselwirkung zwischen HIV und der Erkrankung an COVID-19? Schützen und wirken HIV-Medikamente gegen COVID-19? Und weshalb konnte innerhalb weniger Monate eine hochwirksame Impfung gegen COVID-19 entwickelt werden, während wir drei Jahrzehnte nach Entdeckung von HIV noch immer auf eine Impfung gegen dieses Virus warten? Der vorliegende Artikel beleuchtet diese Fragen und gibt Antworten darauf.

Huldrych Günthard

ist leitender Arzt für Infektionskrankheiten am Universitätsspital Zürich. Mit Unterbrüchen hat er von 1991 bis heute an der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie mitgearbeitet. Er war Mitglied und Chairman des Scientific Board, ist seither Präsident der Kohorte und forscht regelmässig für den Schweizerischen Nationalfonds. Daneben ist er aber auch praktisch in der HIV-Medizin tätig. Er ermuntert den Nachwuchs stetig dazu, weitere Projekte aus der Kohorte einzugeben, damit so viel wie möglich aus ihr gelernt werden kann.

Seraina Kobler | Mai 2022

Als Huldrych Günthard in den frühen Neunzigerjahren als junger Assistenzarzt zum ersten Mal an der Kohorte arbeitete, wurde die rote Schleife gerade zum Symbol für den Kampf gegen Aids, und die verbleibenden Queen-Mitglieder gründeten im Gedenken an den soeben am Virus verstorbenen Frontsänger Freddie Mercury eine Stiftung. Es war eine Zeit, in der es noch so gut wie keine Medikamente gab und die Medizin einzig gegen opportunistische Krankheiten kämpfen konnte, also jene, die dann auftreten, wenn jemand HIV-positiv ist.

Erst ab 1996 gab es erste retrovirale Therapien, die auch die Vermehrung des Virus in Schach hielten. «Dann kam der grosse Wechsel», sagt Günthard. «Es grenzt für mich nach wie vor an ein medizinisches Wunder, dass eine tödliche Krankheit in eine chronische Infektion verwandelt wurde.» Er erinnert sich, wie damals Menschen, die sich für ihre letzten Lebenswochen in ein Hospiz zurückgezogen hatten, vom Sterbebett aufstanden.

Wer dieses medizinische Wunder vermessen möchte, wer es befragen möchte und aus ihm für andere Krankheiten lernen möchte, für all jene birgt die Schweizerische HIV-Kohortenstudie einen unermesslichen Schatz an Proben und Daten, die nicht nur den gesamten Verlauf der Epidemie dokumentieren, sondern in Zukunft auch eine bessere Behandlung der Patientinnen und Patienten ermöglicht. Damit wurde schon Big Data praktiziert, noch bevor der Begriff zum Megatrend wurde und in fast allen Lebensbereichen täglich riesige Datenmengen gesammelt wurden. Gerade in der Medizin ist Big Data bereits sehr viel weiter fortgeschritten, als kritische Stimmen vermuten lassen. Denn grosse Datensätze, auch wenn nur beschreibender Natur, sind für die klinische Medizin ex-trem wertvoll. So können etwa Langzeitnebenwirkungen von Medikamenten praktisch nur mit den entsprechenden Datensätzen eruiert und bestimmten Merkmalen zugeordnet werden. Dank der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie müssen die Daten nicht mühsam aus den Krankengeschichten gefiltert werden, sondern bieten durch die fortlaufende Erhebung ein robustes Wissen, das laufend durch weitere Studien, die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt werden, verbessert wird.

Huldrych Günthard, was ist ganz genau unter einer Kohorte zu verstehen?

Es handelt sich um eine Art Netzwerk von Kliniken, in dem alle grossen Schweizer Universitätsspitäler wie Zürich, Bern, Basel und so weiter, aber auch St. Gallen und Lugano vertreten sind sowie weitere Privat- und Regionalspitäler. Sie alle begleiten ihre Patientinnen und Patienten nach unseren Protokollen. Das heisst: Alle sechs Monate werden strukturiert Daten erfasst – etwa über jene Erkrankungen, die Aids als Krankheit definieren, aber auch über andere Erkrankungen wie sexuell übertragbare Krankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Hepatitis. Auf diese Weise bringen wir in einen Zusammenhang, was in einem Zusammenhang stehen könnte.

Wie hat sich das verändert?

Früher sind die Leute viel früher gestorben. Da hatte man den «Luxus» gar nicht, sich über zu hohe Fettwerte Gedanken zu machen, weil das Virus nicht bekämpfbar und somit tödlich war. So hat sich auch die Datenerhebung im Lauf der Zeit verändert. Wir können nicht einfach alles erheben, sondern müssen auch produktiv sein. Denn die Datenerhebung für die Kohorte machen wir in unserer Routine-Zeit noch dazu. Oft ist das eine Gratwanderung, da wir das System nicht überlasten können, aber dennoch die Daten erheben müssen, um relevante Forschung zu betreiben. Dennoch ist es auch wichtig zu erfragen, ob etwa Risikokontakte stattgefunden haben, wie das psychische Empfinden ist oder ob regelmässig Kondome verwendet werden. Nur so können wir ein umfassendes Bild erhalten, das die Laborwerte ergänzt, in denen wir etwa Leberwerte messen, um Nebenwirkungen von Medikamenten früh genug zu erkennen.

Wir haben mittlerweile 1,5 Millionen Proben in einer ‹Biobank› eingefroren, einem Repositorium für Plasma und Zellen, die wir in gewissen Intervallen, zu Beginn alle paar Monate, später dann weniger häufig, entnehmen.

Das Labor mit den Proben existiert ebenfalls schon lange?

Wir haben mittlerweile 1,5 Millionen Proben in einer «Biobank» eingefroren, einem Repositorium für Plasma und Zellen, die wir in gewissen Intervallen, zu Beginn alle paar Monate, später dann weniger häufig, entnehmen. Das ist sehr aufwendig, denn natürlich braucht man nie alles, aber wir können damit schon lange so arbeiten, wie es heute unter dem Begriff «personalisierte Medizin» in Mode gekommen ist. Dafür kombinieren wir die klinischen Daten mit denen aus dem Labor. Erst wenn wirklich alles erhoben ist, können wir mit dieser Arbeit beginnen. Was wir damit erreichen wollen, ist eine optimale Medizin.

Hat sich die Verträglichkeit der zur Behandlung eingesetzten Medikamente in den letzten Jahren nicht sowieso stark verbessert?

Gewiss! Sie sind nicht nur besser verträglich, die Tabletten wurden auch kleiner, immer mehr Patientinnen und Patienten konnten erfolgreich behandelt werden, in unserer Korhorte sind mittlerweile 96 Prozent aller rund 8000 aktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmer supprimiert. Es ist also nicht mehr möglich, das Virus bei ihnen nachzuweisen, da es konstant unterdrückt wird. Das ist absoluter Wahnsinn, wenn man denkt, wo wir noch vor zehn Jahren standen.

Wo werden in der Schweiz noch Viren übertragen? Wie hängen diese miteinander zusammen? Das kann mit einer Art
‹Virenstammbaum› untersucht werden, natürlich streng anonymisiert.

An der Behebung welcher Probleme forschen Sie denn heute?

Langzeitstudien wie unsere sind extrem wertvoll, weil sie immer noch etwa neue Nebenwirkungen sichtbar machen, die bei den kleineren Studien der Hersteller nicht entdeckt werden können. Phasenweise haben wir auch in der Resistenzentwicklung viel gemacht oder die Wechselwirkung mit anderen retroviralen Medikamenten untersucht. Das wird immer wichtiger, je älter man wird. Selbst bei Menschen, die das Virus nicht tragen, werden ab einem gewissen Alter Medikamente nötig, das ist der Lauf der Zeit. Zudem schauen wir auch den ganzen Bereich der HIV-Pathogenese an. Wo werden in der Schweiz noch Viren übertragen? Wie hängen diese miteinander zusammen? Das kann mit einer Art «Virenstammbaum» untersucht werden, natürlich streng anonymisiert. Doch so können wir herausfinden, ob es Mus-ter gibt, ob etwa das Reise- oder das Migrationsverhalten hineinspielen. Das ist übrigens eine Technik aus der HIV-Forschung, die sich in der Corona-Pandemie als wichtig erwiesen hat. Viele der dort verwendenden Technologien hätten sonst nie so rasch angewendet werden können, wenn es diese Vorarbeit nicht gegeben hätte.

Und doch müssen Sie Ihre Forschung immer wieder unter Beweis stellen und sich alle paar Jahre beim Nationalfonds für die Weiterführung der Kohorte bewerben.

So ist es. Die Wissenschaft ist ein hart umkämpftes Feld. Wir müssen permanent beweisen, dass es uns noch braucht. Ausserdem lässt sich in der Infektiologie nicht das grosse Geld verdienen. Wir sind also noch mehr darum bemüht, trotzdem Spitzenleute zu gewinnen. Wir sind international gut vernetzt und machen bei Projekten mit, denn so gross eine Kohorte auch ist, sie ist nie gross genug, um im Zusammenspiel mit anderen Kohorten nicht etwa noch neue Nebenwirkungen zu entdecken. Das unterscheidet uns von anderen Bereichen, wo jeder für sich schaut und einzelne Personen im Mittelpunkt stehen. Bei uns trainieren wir hervorragende Leute aus verschiedenen Bereichen in interdisziplinärer Arbeit, die Biologin trifft auf den Informatiker und der Virologe auf die Ärztin. Mit diesem Modell, das für unsere Art zu forschen prägend ist, waren wir unserer Zeit voraus.

Wohin geht die Forschung mit der Kohorte in Zukunft? Was würden Sie sich wünschen?

Ganz klar: Wollen wir die Krankheit wirklich in den Griff kriegen, dann braucht es eine Impfung. Zudem gibt es viele Hypothesen über das Älterwerden von HIV-Patientinnen und -Patienten, etwa dass die Hirnleistung abnimmt – solche Thesen versuchen wir aufgrund unserer Datenlage zu entkräften oder zu bestätigen. Und auch die Pathogenese ist nach wie vor unerlässlich, etwa zu erforschen, ob ein allfällig aggressiverer Verlauf am menschlichen Genom liegt oder an einem aggressiveren Virusgenom. Solche Zusammenhänge helfen für künftige Therapieansätze. Und letztlich ist es noch immer essenziell zu wissen, wo sich die Menschen infizieren. Sind etwa bestimmte Substanzen im Spiel, die beim Sex zu risikoreicherem Verhalten führen? Nur so kann eine gezielte Prävention gestartet werden, die es laufend noch braucht.

Aktuelle Studien der Schweizerischen HIV-Kohorte

  • Rauchen senkt die Lebenserwartung stärker als eine HIV-Infektion
    Immer mehr Menschen mit HIV sterben an Herz-Kreis-lauf- und nicht an HIV-bedingten Krebserkrankungen. Vor diesem Hintergrund hat eine Studie den Lebensstil von Menschen mit HIV untersucht und festgestellt, dass Patienten mit gut funktionierender HIV-Therapie mehr Lebensjahre durch das Rauchen als durch die HIV-Infektion verlieren.
  • Resistente Viren übertragen sich durch behandelte und unbehandelte Personen
    Obwohl heutige HIV-Therapien die Vermehrung der Viren praktisch zu hundert Prozent unterdrücken, nahm die Zahl der Resistenzen, die von HIV-Infizierten weitergegeben wurden, nicht ab. Immer wenn neue Medikamentenklassen eingeführt werden, nimmt die Resistenzübertragung ab. Hingegen gibt es weit über hundert Mutationen, die zu Resistenzen des HI-Virus gegen Medikamente führen. Übertragen werden diese durch behandelte, aber auch unbehandelte Patienten.
  • Therapietreue hat hohen Einfluss auf Virenunterdrückung und Lebenserwartung
    Eine Studie untersuchte die Therapietreue von Personen in den ersten fünf Jahren ihrer antiretroviralen Therapie. Das Risiko des Therapieversagens stieg mit der Anzahl der verpassten Dosen. Bei einigen Personen führte die mangelnde Therapietreue sogar zum Tod. In der Folge werden die Patienten konsequenter über Therapietreue befragt, um allfällige Risiken besser ausschliessen zu können.
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