«Die Pandemie hat enormen Schaden angerichtet» : Aids-Hilfe Schweiz

«Die Pandemie hat enormen Schaden angerichtet»

Im Juni 1981 trat Aids zum ersten Mal auf und hat seitdem weltweit fast 30 Millionen Menschen das Leben gekostet. Der Arzt und Historiker Vincent Barras blickt auf diese Krankheit zurück, welche die Art und Weise, wie wir über Epidemien denken, grundlegend verändert hat.

© Keystone / Monika Flueckiger
© Marilyn Manser

Vincent Barras
Vincent Barras ist Professor für Geschichte der Medizin und des Gesundheitswesens an der Universität Lausanne und Leiter des Instituts für Humanität in der Medizin am Universitätsspital Lausanne.

Interview Julien Burri | Dezember 2021


Vincent Barras, in der Schweiz waren Sie einer der Ersten, der 1981 einen Aids-Patienten untersucht hat.
Ich hatte gerade mein Arztdiplom gemacht und war am Genfer Institut für Rechtsmedizin angestellt, das im Kantonsspital eine Abteilung für Gefängnismedizin hatte. Im Sommer 1981 erhielt ich einen Patienten, der als drogenabhängig galt und im Gefängnis Champ-Dollon in Untersuchungshaft sass. Er kam in einem sehr schlechten Gesundheitszustand zu mir. Überall entdeckte ich Anhäufungen von Adenopathien, also Lymphknoten: in den Vertiefungen über dem Schlüsselbein, am Hals, in der Leiste. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich meldete den Fall meinem Klinikchef, wir konnten uns das nicht erklären. Vierzig Jahre danach spüre ich diese Knoten immer noch unter meinen Fingern. Der Beginn meiner Karriere fiel mit dem Auftreten von Aids zusammen.

Wie reagierten damals die Fachleute auf den von Ihnen betreuten Patienten?
Wir riefen Francis Waldvogel, den Professor für Infektionskrankheiten am Kantonsspital, an, aber auch er wusste nicht, worum es sich handeln könnte. Ihm waren jedoch Gerüchte aus den USA zu Ohren gekommen, die in der wissenschaftlichen Gemeinschaft kursierten, über Fälle mit schweren Infektionen, ungewöhnlichen Krebserkrankungen und massiven Adenopathien. In weiser Voraussicht riet er uns, einen Lymphknoten zu entnehmen und einzufrieren. Es war noch zu früh, um zu verstehen, was hier los war, aber wir hofften, später etwas in diesem Lymphknoten zu finden.Was aus diesem Patienten wurde, weiss ich nicht.

«Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis man das verantwortliche Virus nachweisen konnte. Auch der Übertragungsmodus war ein grosses Rätsel, das erst gegen Ende der Achtzigerjahre gelöst wurde.»

Die von Ihnen beobachtete Krankheit hatte also noch keinen Namen?
Am 5. Juni 1981 berichtete der Morbidity and Mortality Weekly Report, eine US-Fachzeitschrift für Medizin, von fünf Verdachtsfällen von Lungenentzündung in der Gay-Community von Los Angeles. Dies gilt heute als erste Publikation über die Entstehung von HIV/Aids. Die Meldung war nur ganz kurz. Doch es war das erste Beben, das erste an der Oberfläche platzende Bläschen, das die Katastrophe ankündigte, zu der die Epidemie sich entwickeln würde. Die Krankheit bekam verschiedene Namen, und mehrere Viren standen unter Verdacht: HTLV-3, LAV … Etwa 1983, 1984 einigte man sich schliesslich auf das Akronym HIV, das bald untrennbar mit dem Begriff «erworbenes Immunschwächesyndrom» (acquired immunodeficiency syndrome) verknüpft war: HIV/Aids. Das war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Fachleuten aus den USA und Frankreich, die damals in der Erforschung dieser Krankheit führend waren.

Haben Sie nicht auch eine Autopsie an einem Aids-Patienten durchgeführt?
Später arbeitete ich in der Pathologie, im damaligen Pathologischen Institut des Universitätsspitals Genf. Wir begannen mit der Autopsie von HIV/Aids-Patienten, die an einer Lungenentzündung oder an scheinbar generalisierten Krebserkrankungen (Kaposi-Sarkom) gestorben waren. Ich entnahm eine Probe aus der Lunge eines Patienten, dessen Todesursache nicht genau bekannt war, und entdeckte kleine Sporenknäuel des seltenen Infektionserregers Pneumocystis carinii (der inzwischen einen anderen Namen hat). Dieser Mikroorganismus fand sich in den Lungen von Patienten mit geschwächtem Immunsystem.

Warum hat es so lange gedauert, bis diese Krankheit identifiziert werden konnte?
Es musste erkannt werden, dass HIV/Aids keine Krankheit im eigentlichen Sinn ist, sondern einen Zustand der Immunschwäche hervorruft, der anderen Krankheiten Tür und Tor öffnet. Die Medizin musste ihr Konzept dessen, was eine Epidemie ist, neu überdenken. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis man das verantwortliche Virus nachweisen konnte. Auch der Übertragungsmodus war ein grosses Rätsel, das erst gegen Ende der Achtzigerjahre gelöst wurde. Und erst Mitte der Neunziger, mit den Mono-, Bi- und später Tritherapien, wurde HIV/Aids sozusagen zu einer chronischen Krankheit.

Hatten Sie Angst, Aids-Patienten zu behandeln?
Wir hatten furchtbare Angst vor dieser Krankheit, die wir nicht verstanden. Das Pflegepersonal war sehr gestresst. Selbst für Autopsien mussten wir vier Schichten Handschuhe, dazu Maske und Schutzanzug tragen. Aber wir waren nicht gut ausgerüstet. Die Medizin, die oft ihre Vergangenheit vergisst, wurde von Aids völlig überrumpelt. Man glaubte, nicht ohne Arroganz, man habe mit den Infektionskrankheiten abgeschlossen, weshalb eine Disziplin wie die Infektiologie schon beinah als veraltet galt.

Existierte Aids denn schon, bevor es offiziell entdeckt wurde?
Historiker, Virologen und Epidemiologen wie Jacques Pépin haben nachweisen können, dass Aids schon seit Jahrzehnten existierte. Die Spur führt bis in die 1920er-Jahre im kolonialen Afrika zurück. Das menschliche Virus, also HIV, entstand aus der Mutation eines tierischen Virus, das durch Blutkontamination vom Tier auf den Menschen übertragen wurde. Heute geht man davon aus, dass Aids aus dem Handel zwischen Menschen und Schimpansen resultierte, und zwar im Zusammenhang einer Störung des ökologischen Gleichgewichts sowie grosser demografischer, sozialer und politischer Veränderungen am Ende der Kolonialzeit im Afrika südlich der Sahara und der damit verbundenen Umwälzungen. Dies erinnert in mancher Hinsicht stark an das, was wir über die Entstehung der Covid-Pandemie wissen. HIV blieb jedoch lange Zeit ein unauffälliges Virus, bevor es im Zuge der Bevölkerungsexplosion in mehreren urbanen Ballungszentren in Äquatorialafrika zu lokalen Ausbrüchen kam und HIV sich dann Ende der Siebzigerjahre rasch über die ganze Welt ausbreitete. Eine Kombination lokaler Mikrokatastrophen führte zu einer globalen Katastrophe: ein Paradebeispiel für den sogenannten Schmetterlingseffekt.

«In der Geschichte der Epidemien ist die Stigmatisierung einer bestimmten Gruppe ein Klassiker. Im Mittelalter gab man den Juden die Schuld an der Pest.

Damals suchte man nach moralischen Ursachen für diese Krankheit. Der Schweizer Skifahrer Pirmin Zurbriggen glaubte, sie sei eine Strafe Gottes für die Schwulen.
Wie bei der aktuellen Pandemie wäre es für gewisse Leute wohl besser gewesen, wenn sie geschwiegen hätten. Im Falle von HIV/Aids dauerte es lange, bis man begriff, dass alle betroffen waren. Zu Beginn waren die betroffenen Communitys, die ersten «sichtbaren» Opfer, sehr spezifisch: Homosexuelle und Drogenkonsumenten. Es war leicht, sie zu Sündenböcken zu machen, und die moralischen Vorurteile, denen auch die Wissenschaft unterlag, hatten ein leichtes Spiel. In der Geschichte der Epidemien ist die Stigmatisierung einer bestimmten Gruppe ein Klassiker. Im Mittelalter gab man den Juden die Schuld an der Pest. Im 19. Jahrhundert wurden muslimische Pilger aus Asien für die Übertragung der Cholera verantwortlich gemacht.

Wie hat HIV/Aids unsere Einstellungen verändert?
HIV/Aids hat einen enormen Schaden angerichtet: Es hat über 30 Millionen Menschen das Leben gekostet. Ohne zynisch zu sein, können wir aber auch versuchen zu sehen, was die Epidemie bewirkt hat. Den Gay-Communitys hat sie beispielsweise ermöglicht, sich zu behaupten, sich zu outen, Solidarität zu zeigen, aktiv zu werden und die Gesundheitspolitik zu beeinflussen. HIV/Aids hat gezeigt, wie mächtig Interessenverbände für Patient:innen sind und wie wichtig es ist, dass das medizinische System ihnen Rechnung trägt. Denken Sie an Act Up, das den Zugang zu Therapien forderte. Dies hat auch dazu beigetragen, den sehr patriarchalischen und autoritären Status eines Teils der Ärzteschaft zu entlarven.

Heute ist HIV/Aids zwar bei Weitem nicht besiegt, aber es scheint, dass die Krankheit keine Angst mehr macht.
Sie wird verharmlost, obwohl sie weltweit noch immer zu fast 700 000 Todesfällen pro Jahr führt, und zwar aus Gründen, die nichts mit der Virulenz des Virus zu tun haben, sondern mit menschlicher Nachlässigkeit, mit sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit, mit Machtstrukturen. Es gibt weiterhin Politiker, die behaupten, Aids sei eine Strafe Gottes. HIV mutiert ständig, wie andere Viren auch, weshalb noch kein wirksamer Impfstoff existiert. Die Krankheit Aids mag unsichtbar geworden sein, ihre Toten mögen verstummt sein, aber es gibt sie noch immer.


> Dieser Artikel wurde den Swiss Aids News gratis zur Verfügung gestellt. Er erschien erstmals am 8. Juli 2021 in «Le Temps» (www.letemps.ch).

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